Unabhängigkeit
Kapitel 5.a. Neugranada: Stückwerk auf einem Flickenteppich
Während in einzelnen Provinzen weder Spanier noch interne Meinungsverschiedenheiten die neue Autonomie beeinträchtigten, kämpften andere gegen die innere Zerrissenheit und die Kolonialmacht gleichzeitig. Einstweilen sorgten die unterschiedlichen Auffassungen der Patrioten meist nur für eine Behinderung im Kampf gegen die Spanier, aber das genügte, um diesen die Gelegenheit zu geben, ihre Position derart zu festigen, daß sie auf Jahre erfolgreich Widerstand leisten konnten.
In der Provinz Cartagena kam es am 21. Januar zum ersten militärischen Aufeinandertreffen von Patrioten am Rio Magdalena, wegen Meinungsunterschieden im Bezug auf die Haltung gegenüber Spanien. Während Mompos konsequent die Loslösung forderte, sahen die Vertreter der Aristokratenpartei in Cartagena ihre wirtschaftlichen Pfründe aus dem Spanienhandel in Gefahr. Die Cartagener konnten das Treffen für sich entscheiden, verfuhren aber nicht allzu streng mit den Unterlegenen. Ein royalistischer Gegenaufstand in Cartagena am 04. Februar konnte vereitelt werden, aber am folgenden Tag geriet der Mob wegen dieser Nachricht außer Kontrolle und tötete viele Spanier und Royalisten, bevor die Junta von Cartagena die offizielle Strafverfolgung einleiten konnte.
In Bogota wurde im Januar ein Komitee mit der Ausarbeitung einer Verfassung für die Cundinamarca beauftragt, das von Camilo Torres beraten wurde. Diese trat Anfang April in Kraft. Die Beziehungen zum Nachbarland Venezuela regelte die Cundinamarca in einem Freundschaftsvertrag Ende Mai. Daher scheiterte der Versuch von El Socorro, sich mit den Venezolanern gegen Bogota zu verbünden.
Im Februar nahm die Idee eines Bundeskongresses anstatt der Obersten Junta konkrete Formen an. Auch deswegen, weil Chiquinquira in der Provinz Tunja mit einigen Gemeinden der Umgebung am 25. eine eigene Provinz ausgerufen hatte, da der Ort mit Bogota genauso unzufrieden war, wie mit Tunja. Die Oberste Junta versuchte mit allen Mitteln das Gründungs-Wahlkolleguim, das ihre Ablösung vorbereiten sollte, zu behindern. Dazu schränkte sie, trotz neugegründeter Zeitungen, die Pressefreiheit ein, da ein angeblich geheimes Dokument publiziert worden war. Am Monatsende war der Machtkampf entschieden, und das Kollegium setzte die Oberste Junta ab. Gleichzeitig bekräftigte es die Unabhängigkeit, aber nicht etwa von Spanien, sondern lediglich vom Regentschaftsrat. An die Loslösung von Spanien glaubten die Patrioten auch Ende Oktober noch nicht, wie ein in der Zeitung veröffentlichter Brief beweist, der aufzeigt, daß es die dafür notwendigen Mittel gar nicht gäbe. Damit wurde, sicher unfreiwillig, die Position der Royalisten gestärkt, die nach wie vor an Spanien orientiert waren.
Im Cauatal, in der Provinz Popayan, schlossen sich eine Reihe von Gemeinden zu einem Bund zusammen, dem ab dem 01. Februar eine Junta, angeführt von Cali, vorstand. Tage später erklärte sich die Junta vom Regentschaftsrat unabhängig und stellte in den folgenden Wochen ein Milizbataillon auf. Der royalistische Provinzgouverneur Miguel Tacon ließ daraufhin in Popayan auf König und Regentschaftsrat schwören. Er verlangte, daß dies in der gesamten Provinz zu geschehen habe. Antonio Baraya, der mit Milizen aus Bogota gekommen war, bereitete unterdessen einen Feldzug gegen Popayan vor. Tacon jedoch mußte sich einem Feldzug aus Ecuador unter Pedro Montufar in der zweiten Februarhälfte entgegenstellen, aber die Ecuadorianer konnten gegen Ende des Monats nach einigen Gefechten Pasto besetzen.
Ohne die Unterstützung aus dem Süden kehrte Tacon im März in die Provinzhauptstadt zurück, während die Milizen aus dem Caucatal und Bogota auf Popayan marschierten. In Piendamo, dreißig Kilometer vor dem Ziel, blieb Baraya am 25. und 26. März, ehe er eine Vorhut unter Atanasio Giradot mit 190 Mann aussandte. Gleichzeitig schickte er einen Trupp nach Osten, da er wußte, daß aus Neiva eine Abteilung zu seiner Unterstützung auf dem Weg war. Dort hatte die Junta Ende Januar Popayan den Krieg erklärt und José Diaz stellte in San Sebastian de La Plata eine Truppe für Baraya bereit. Royalistische Garnisonen auf dem Weg besiegend, stieß Diaz am 28. März auf dem Schlachtfeld zu Baraya. An diesem Morgen hatte Tacon, der in befestigten Stellungen vor der Stadt gewartet hatte, Giradot mit Barayas Vorhut an der Brücke über den Unterlauf eines Cauca-Zuflußes namens Palacé, rund 15 Kilometer nördlich von Popayan angegriffen. Bis zum Eintreffen des Gros des Patriotenheeres nach Mittag, war es Giradot gelungen, die Brücke zu halten, und mit einem entschlossenen Angriff der Kavallerie wurden Tacons Truppen besiegt. Während Tacon nach Pasto (das die Ecuadorianer offenbar wieder verlassen hatten) floh, besetzte Baraya am 01. April die Provinzhauptstadt. Im Mai wurden die politischen Strukturen in der Provinz neu geordnet und eine Junta gegründet.
Im März hatte der aus Cartagena stammende Manuel Castillo y Rada auf Geheiß des Kollegiums in Bogota Honda und Mariquita besetzt, da es Hinweise auf einen Gegenputsch der Königstreuen gegeben hatte. Mit seinem Sekretär Francisco de Paula Santander, löste er am 01. April die Juntas auf, und erzwang die direkte Unterstellung der Provinz unter Bogota. In El Socorro, das sich Ende Januar von Regentschaftsrat unabhängig erklärt hatte, versuchte sich die Gemeinde San Gil Bogota direkt zu unterstellen, was die Provinzjunta dazu bewog, der Gemeinde zu drohen. Die Provinz unterstellte dem Bund der Provinzen im Juni Truppen, da sich das Verhältnis zur Cundinamarca wegen deren Annexionen verschärfte.
Aus Spanien war im Mai ein neuer Militärgouverneur für Santa Marta eingetroffen, der sich der Unabhängigkeit gegenüber aufgeschlossen präsentierte. Den Orten in der Provinz, die sich für Selbstbestimmung entschieden hatten, gewährte Cartagena Schutz in Form von Milizen. Die Royalisten der Provinz waren jedoch nicht gewillt dies hinzunehmen und organisierten in der zweiten Jahreshälfte Feldzüge, um diese Gemeinden zurückzuerobern. Die Schwerpunkte der Kämpfe lagen dabei südlich der Magdalena-Mündung und östlich von Mompos.
In Casanare schlossen sich im Juni einige Gemeinden direkt der Cundinamarca an, womit selbst in dieser entlegenen Provinz die Einheit zerstört wurde. Ende Juni gab sich Antioquia eine Verfassung und am 22. August wurde ein Freundschaftsvertrag mit der Cundinamarca unterzeichnet. Garzon in der Provinz Neiva hatte am 11. Juli die Anbindung an die Cundinamarca beschlossen und am 30. September schloß Timana einen Bund mit Bogota. Die Verfassung von Neiva erzeugte in ihrer ersten Fassung zuviel Unruhe, und mußte überarbeitet werden. Die beiden Provinzen des Choco, die den Popayan-Feldzug von Baraya logistisch unterstützt hatten, emanzipierten sich am 10. September vom Regentschaftsrat.
Baraya erkannte derweil die Gefährlichkeit Pastos, und organisierte Anfang Juli einen Feldzug in den Süden der Provinz. Da Tacons Truppen desertierten und der Gouverneur in Richtung Küste floh, hätte Baraya am 10. August den Unruheherd einnehmen und besetzt halten müssen. Es ist ungeklärt, wieso er am Monatsende von Popayan erneut nach Pasto aufbrach, um sein Versäumnis zu korrigieren.
Antonio Nariño, dem Kollegium in Bogota als Sekretär angehört hatte, gründete Mitte Juli eine eigene Zeitung, um seine Meinung zu publizieren. Ende August wurde er zum Gouverneur der Cundinamarca ernannt, wozu seine Meinungsmache nicht unerheblich beigetragen hatte. Er nutzte seine Zeitung auch dafür, die Bevölkerung mit Nachrichten über die militärischen Erfolge der Royalisten (vor allem an der Nordküste) zu verunsichern und sich so den nötigen Rückhalt zu verschaffen, als er den Präsidenten der Cundinamarca am 19. September aus dem Amt putschte. Seine Begründung war das Haushaltsdefizit der Provinzregierung. Zwei Tage später sprach er beim Gründungs-Wahlkomitee vor, um das Amt wieder zurückzugeben. Da er in derselben Sitzung offiziell zum Präsidenten gewählt wurde, ist davon auszugehen, daß er die Einstellung der Mitglieder mindestens genau kannte. Er schaffte es sogar an diesem Tag, die Verfassung zu ändern, um unbehinderter regieren zu können. Ab diesem Zeitpunkt regierte der profilierteste Vertreter des Zentralismus in der Region um die Hauptstadt, die nach wie vor auf ihrem landesweiten Führungsanspruch bestand.
Dem Feldzug Barayas auf Pasto kam erneut Pedro Montufar aus Ecuador zuvor und besetzte die Hochburg der Königstreuen am 22. September. Baraya, den auf dem Weg seine Beförderung zum Generalinspekteur erreichte, überließ Joaquin Caicedo, dem Präsidenten der Provinz, die Führung des Feldzugs. Die Vorhut, die Lebensmittel für die Truppen requirieren sollte, zeigte sich den Bewohnern des Tals des Rio Patia jedoch wenig aufgeschlossen, woraufhin diese Guerillatruppen aufstellte, die diesen und alle weiteren Feldzüge nach Pasto massiv behinderten. Montufar brachte derweil die Pastusos, die bereits von der Kirche gegen die Unabhängigkeit eingestimmt worden waren, weiter auf, als er die Stadt von seinen Soldaten plündern ließ. Nach seiner Ankunft zwang der Präsident der Provinz, sich unabhängig zu erklären und die Regierung in Bogota anzuerkennen. Diese Zwangsmaßnahmen konnten lediglich mit militärischem Druck durchgeführt und aufrecht erhalten werden.
Der Regierungsstil Nariños in Bogota verstärkte inzwischen die Spannungen mit dem Bund der Provinzen. Daher verließ der Kongreß der vereinigten Provinzen Anfang November Bogota, und verlegte seinen Sitz nach Ibagué (heute Tolima). Dort unterzeichneten nur fünf Provinzen die Bundesakte: Antioquia, Cartagena, Neiva Pamplona und Tunja. Neben einzelnen Landkreisen, hatten sich Casanare und Mariquita komplett der Cundinamarca unterstellt. In El Socorro und im (heutigen) Choco waren die Verhältnisse noch ungeklärt. Teile von Popayan, sowie Santa Marta und Riohacha waren spanientreu.
Mitte Oktober kehrte eine Delegation aus den USA nach Bogota zurück, die zwar keinen Erfolg damit gehabt hatte, politische Anerkennung und militärische Unterstützung zu erlangen, sie brachte jedoch Druckerpressen und einen französischen Mineralogen mit, der fortan ihre Munitionsfabrik leitete. Dem Staatsdefizit, das Nariño durch seinen Putsch hatte bekämpfen wollen, mußte er im Oktober mit Geldherstellung begegnen, was zur Steigerung der Inflationsrate beitrug.
Die Junta von Cartagena erklärte am 11. November die Unabhängigkeit der Provinz von Spanien. An diesem, von gewaltsamen Unruhen überschatteten Tag, wurde auch die Inquisition abgeschafft, aber es endete auch der Streit mit Mompos. Damit eröffnete sich Gelegenheit, sich mehr um die Königstreuen von Santa Marta zu kümmern, auch wenn damit nicht alle Unstimmigkeiten in den Reihen der Patrioten beseitigt waren.
Die Provinz Tunja führte am 20. November Provinzgerichtshöfe ein, und veröffentlichte am 09. Dezember eine Verfassung. Gegen Bogota mußte man sich wegen weiterer Annexionen mit Protesten begnügen, da man nicht in der Lage war, der Hauptstadt militärisch entgegenzutreten.
Nariño, der sich am 22. Dezember vom Wahlkollegium als Präsident der Cundinamarca bestätigen ließ, beschwor den Zentralismus und begann erstmals, zwar noch verklausuliert, von der Unabhängigkeit von Spanien zu philosophieren. Die dazu nötige Landeseinheit, wenigstens unter den Patrioten, hatte er allerdings nicht erreicht.
Fortsetzung: Kap. 5.b. Venezuela: Widerstand gegen die Republik