Stefan K. Beck, Privatgelehrter und Projektemacher

Unabhängigkeit

Kapitel 1. Einleitung

Die Kolonisierung Amerikas nach der Entdeckung durch Christoph Kolumbus (s. Konquista) am Ende des 15. Jahrhunderts eröffnete, neben den bereits vom Entdecker eingeführten wirtschaftlichen Nutzungsmöglichkeiten, den unter dem damals in Europa weit verbreiteten Lehenssystem eingezwängten Menschen die Möglichkeit, ihr Dasein freier zu gestalten. Kolonisten, die vor diesem Hintergrund in die Neue Welt emigrierten, und auch deren Nachfahren, hatten daher einen gegenüber ihren Zeitgenossen in Europa einen veränderten Blickwinkel auf die weit entfernten Herrschaftsstrukturen. So sind bereits die ersten Aufstände gegen die von Carlos I. von Spanien, der im Heiligen Römischen Reich Kaiser Karl V. genannt wurde, 1542 erlassenen “Neuen Indiengesetze“ auch Ausdruck einer in den Kolonien gefühlten Eigenständigkeit. Diese Aufstände ziehen sich durch die Kolonialgeschichte der Länder Spanisch-Amerikas bis zur endgültigen Unabhängigkeit und darüber hinaus. Daher ist es sicher auch eine Frage des Blickwinkels, welche der Erhebungen, die immer einen direkten Bezug zu Regelungen der spanischen Krone oder deren Stellvertreter in den Kolonien hatten, als Vorläuferaufstände zur Unabhängigkeit zu werten sind.

Der Weg in die Unabhängigkeit dauerte in den spanischen Kolonien Amerikas jedoch noch 300 Jahre, denn die Leitbilder der Unabhängigkeit der USA 1776 und der französischen Revolution 1789 mußten sich erst in den Köpfen der Kolonisten festsetzen, damit daraus die Vorkämpfer der Befreiung ihre an die dortigen Verhältnisse angepaßten Thesen auf den Weg bringen konnten. Die Jesuiten, die mit ihrer humanen Auslegung der Glaubensregeln vor allem der indigenen Urbevölkerung gegenüber und ihrer weitreichenden Bildung in Amerika wirkten, standen mit ihrer Profitgier derart im Wege, daß sie König Carlos II. von Spanien 1767 per Dekret auswies. Ihr geistiges Erbe überdauerte allerdings bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, um wichtige geistige Impulse für das Streben nach Unabhängigkeit zu liefern.

Die Venezolaner Francisco Miranda, mit seinem universellen Wissen, seinen über Jahre in Europa vertieften persönlichen Kontakten und nicht zuletzt seinen beiden gescheiterten Landungsversuchen in seiner Heimat 1806, sowie der Humanist Andrés Bello, der nur zu Anfang in seiner Heimat mit Schriften wirkte und später in London lebte, schufen die Grundlagen, zu denen auch viele andere beitrugen, damit in Venezuela aus der Unzufriedenheit mit dem kolonialen Herrschaftssystem der Drang zur Unabhängigkeit erwuchs. In Peru trugen der gebildete Indianerhäuptling und Großunternehmer José Gabriel Condorcanqui, der als Tupac Amaru II. einen Aufstand 1780/81 gegen die Ungerechtigkeiten des von den Habsburgern eingeführten und den Bourbonen weiterentwickelten Systems der kolonialen Abhängigkeit anführte, der das gesamte Spanisch-Amerika erfaßte, sowie der ausgewiesene Jesuit Pablo Vizcardo Guzman mit seinen versuchen Verbündete in Europa zu gewinnen, maßgeblich zur Vorbereitung bei. Im Gerichtsbezirk Quito (Ecuador) wirkte der Arzt Eugenio Espejo mit seinen Schriften wegweisend. Herausragend in Neugranada (heute Kolumbien) erwies sich der Geschäftsmann Antonio Nariño, der die Menschenrechte ins Spanische übersetzte, ausländische Zeitungen trotz Verbots vertrieb, eine Freimaurerloge begründete und immer wieder die Herrschaft der Spanier anprangerte.

Aber diese nicht ausschließlich geistige Vorarbeit war ungenügend, um das spanische Joch abzuschütteln. Die Spanier selbst trugen durch ihr oft brutales Vorgehen, schon bei kleineren Unregelmäßigkeiten, in entscheidenden Maß zur Eskalation bei, die in einen fünfzehnjährigen Krieg mündete, der weite Teile der Länder verwüstete. Den ökonomisch, edukativ und vor allem menschlich zweitklassig behandelten Kolonisten, deren Nachfahren sich bis heute dem spanischen Kulturkreis zugehörig fühlen, hätte nicht nur regional dramatische Bevölkerungsverluste verhindert, die – prozentual gesehen – den Bevölkerungsschwund während der Koalitionskriege gegen Napoleon Bonaparte in Europa in den Schatten stellen, die Spanier wären noch viele Jahre, vielleicht sogar bis in unsere Zeit, in den Genuß gekommen, in vielerlei Hinsicht von den heutigen Nationalstaaten in Süd- und Mittelamerika zu profitieren. In der Tat genießen Spanier noch heute in ihren ehemaligen Kolonien Amerikas einzigartige Privilegien.

Der Aufstand war keine Massenbewegung, vielmehr das Ergebnis von über Jahre hinweg andauernden Bemühungen der Elite, zumeist der jüngeren Generation, die zwar immer auch die Meinung breiter Bevölkerungsschichten wiedergaben, sich aber durch ihre bessere Ausbildung eloquenter artikulieren konnten und bei ihren geheimen konspirativen Treffen zumeist um lokale oder regionale Aspekte kümmerten. Zu Beginn der oft unblutigen Versuche, Selbstbestimmtheit zu erreichen, konnten die Verschwörer nicht damit rechnen, für einen Unabhängigkeitskrieg weitere Kreise der Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. Daher bedurfte es des Ausbruchs des Krieges zwischen dem bonapartistischen Frankreich und dem royalistischen Spanien, damit die Rebellen eine echte Chance erhielten, gegen die Autoritäten der Kolonialmacht vorzugehen. Einerseits erzeugte der Kampf gegen Napoleons Truppen und dessen Bruder Joseph I. auf dem spanischen Thron neue Verwaltungsstrukturen, die durchaus an die französische Republik angelehnt waren, und andererseits konnten die Spanier im Mutterland ihren Kolonisten nicht die nötige Aufmerksamkeit schenken, selbst, wenn sie gewollt hätten.



Fortsetzung: Kap. 1.a. Spanien und der Krieg gegen Napoleon



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