Stefan K. Beck, Privatgelehrter und Projektemacher

Tagebuch

74. Von La Paz nach Cartagena

Abreise aus La Paz

Kurz nach fünf, etwa eine halbe Stunde, bevor ich sowieso aufstehen mußte, kam offenbar eine Schulklasse im Hotel an und mit der Nachtruhe war’s vorbei. Ich konnte mir also etwas Zeit lassen, die letzten Vorbereitungen vor der Abfahrt zu treffen, denn mein Taxi war auf halb sieben bestellt. Auf der Fahrt begann es hell zu werden, aber wegen der Königskordillere im Osten dauerte es eine Weile, bis die Sonne über den Bergen aufging. Inzwischen hatte ich El Alto, den höchsten zivilen Flughafen der Welt, erreicht. Passend zu La Paz war er klein, überschaubar und wirkte fast familiär.

Nachdem ich das Gepäck aufgegeben hatte und die Ausreisesteuer bezahlt hatte, setzte ich mich draußen auf dem Parkplatz auf den Rand eines steinernen Blumenkübels und sah mir die schneebedeckten Gipfel der Berge im Westen des Altiplanos an, die in rötlichen Licht der Morgensonne erstrahlten. Obwohl es zusehends wärmer wurde, lief ich eine Weile auf dem fast parkähnlich gepflegten Parkplatz herum, um den Resten der Nachtkälte zu entgehen. Ich ließ meine letzten Bolivianos in einem Souvenirladen, wobei ich jedoch auf das Gewicht achten mußte. Für diesen Flug schaffte ich es, nicht zuzahlen zu müssen, aber ob dies auch auf dem Rückweg so sein würde, wußte ich nicht.

Erinnerung im Zeitraffer

Endlich hob das Flugzeug ab und zehn Minuten später sah ich den Titicacasee unter mir. Zehn Minuten! Ich hatte dafür mit dem Fahrrad zwei harte Tage gebraucht. Aber, so tröstete ich mich, was hatte ich in diesen beiden Tagen gesehen und gehört! Das, was ich durchs Flugzeugfenster sah, war sicher eine ungewöhnliche Perspektive nach den Monaten auf der Erdoberfläche, aber der Detailreichtum, den ich erfahren hatte, war unersetzlich. Die Stewardessen lenkten mich von weitern Betrachtungen mit einem Snack ab, zu dem ich mir einen Wein servieren ließ.

Ich wurde erst wieder aufmerksam, als der Pilot südperuanische Städte und Berge ansagte, die ich kannte. So wurde der Flug für mich zu gerafften Zeitreise. Unter mir lagen die Anden Südperus, durch die ich mich wochenlang mit dem Fahrrad gequält hatte. Immer wieder kamen die Erinnerungen an Menschen und Begebenheiten, als der Pilot die Ortsnamen nannte. Das war es, was mir den Flug unbezahlbar gut erscheinen ließ. Die Zeit verging ziemlich schnell, obwohl ich wieder in die vorhergehende Zeitzone zurückkehrte und damit eine Stunde gewann. Fast enttäuscht, verließ ich in Lima das Flugzeug.

Schwierigkeiten mit dem Sondergepäck

Immerhin sah ich, wie mein Fahrrad korrekt umgeladen wurde. Meinen Geologenhammer allerdings verlangte ich erst mal vergeblich zurück. Aus Sicherheitsgründen hatte ich das aus einem Stück geschmiedete Werkzeug in La Paz vor dem einchecken offen abgegeben, weil ich aus Erfahrung wußte, daß man ihn mir im Handgepäck nicht gönnen würde. Da ich als einziger Passagier nicht nur das Flugzeug, sondern auch die Fluglinie wechseln mußte, denn der erste Teil des Fluges fand in einer Maschine der Lloyd Aéro Boliviano statt, bekam ich einen Mitarbeiter von Avianca, der sich um mich kümmern sollte. Aber auch der schaffte es nicht, den Hammer wieder aufzutreiben.

Inzwischen ärgerte ich mich mehrfach mit dem Flughafenpersonal herum, weil man nirgends Raucherzonen ausgewiesen hatte und ich nicht im Traum daran dachte, mir vorschreiben zu lassen, nicht zu rauchen. Schließlich fand ich zwischen den Duty Free Shops ein Café, wo man mich rauchen ließ. Ich hatte zwar wenig Lust, mich zum Konsum zwingen zu lassen, aber beim zweiten Mal überkam mich doch der Durst in der für mich heißen und trockenen Luft von Lima.

Endlich war ich wieder in der Luft und auf dem direkten Weg nach Bogotá. Weil hier der Pilot keine Angaben zum Standort machte, war ich gezwungen, selbst zu überlegen, über welchem Landesteil ich mich gerade befand. Das funktionierte nicht immer und wegen der dazu nötigen Konzentration kehrten auf diesem Flugabschnitt die Erinnerungen weniger intensiv und seltener zurück. Das Mittagessen tat sein übriges, um mich abzulenken.

Als ich am Nachmittag in Bogotá landete, kümmerte ich mich zuerst um Hammer und Fahrrad, das ich diesmal nicht hatte sehen können. Erleichtert wurde mir dies dadurch, daß hier keine Raucherzonen gab. Hier wurde überall geraucht. Ich fand schließlich am Inlandsterminal einen sehr hilfsbereiten Avianca-Mitarbeiter, der mich zu verschiedenen Büros schleppte, die alle mit dem Verschwinden meines Hammers konfrontiert wurden. Weil sich der Flug nach Cartagena um eine Stunde verzögerte, hatten wir Zeit, die wir auch nutzten. Das Ergebnis war allerdings ernüchternd. In Lima war der Hammer verlorengegangen. Man wollte alles tun, um ihn wiederzubeschaffen und falls dies nicht gelänge, sollte ich eine Verlustmeldung aufgeben und Ersatz fordern. Da ich nicht wußte, ob ich im Punta Arena ein Zimmer bekommen würde, gab man mir einige Telefonnummern in Bogotá und Cartagena, bei denen ich mich melden sollte.

Wieder da, wo's am schönsten war

Bei dem knapp einstündigen Flug an die Karibikküste war ich fast mehr mit den Snacks beschäftigt, die die Stewardessen reichten, als ich mich auf den Blick aus dem Fenster auf die Landschaft unter mir konzentrieren konnte. In Cartagena endlich angekommen, empfing mich die schwül-heiße Luft fast wie ein Schlag, aber ich war froh, endlich angekommen zu sein. Bis ich das Gepäck geholt und ein Taxi in die Innestadt bestiegen hatte, waren es über dreizehn Stunden gewesen, die ich unterwegs war, von denen ich aber nur fünfeinhalb in der Luft verbracht hatte. Als ich vor dem Punta Arena ausstieg, war es bereits dunkel.

Marina war freudig überrascht und konnte es fast nicht glauben, daß ich die ganze Zeit seit meinem Weggang nur in Südamerika gewesen war. Sie gab mir ein gutes Zimmer und nachdem ich der nächsten tienda, in der man sich ebenfalls noch an mich erinnerte, ein paar Bier geholt hatte, saßen wir im Foyer des Hotels und tauschten die Neuigkeiten des vergangenen halben Jahres aus. Ich bin allerdings nicht spät ins Bett gegengen, weil ich von der Reise hierher ziemlich geschlaucht war.

Obwohl ich Marina gebeten hatte, José nichts von meiner Ankunft zu sagen, wußte er Bescheid, weil er seit meinem ersten Besuch jeden Morgen die Gästeliste zur Meldebehörde trug. Unser Wiedersehen verlief sehr herzlich. Ich hatte bereits in einer nahen tienda gefrühstückt und wir zogen gemeinsam durch die Stadt, weil ich einige Dinge benötigte, von denen er am besten wußte, wo ich sie bekommen konnte. Unter anderem brachten wir wieder einmal die Hose zum Schneider und für meine durchgelaufenen Lederschuhe kannte er einen Schuhmacher. Nach dem Einkauf schickte ich ihn mit einer Besorgung los, während ich bei Avianca des Hammers wegen anrief und meine Adresse hinterließ.

Vor dem Essen gingen wir gemeinsam in eine tienda, um ein eiskaltes Aguila zu schütten. Ich fragte ihn nach seiner Lieblingskneipe Salsa y Mas Ná, aber zu seinem Bedauern gab es den Laden nicht mehr. Das Leben hatte sich für ihn nicht geändert und so war es eine willkommene Abwechslung sich wieder mit mir zu unterhalten. Er fragte mich aber nur nach den ersten paar Tagen, nachdem ich Cartagena verlassen hatte. Ich vermute, daß er sich nicht weiter auskannte, und daß er sich nicht den Mund auf Reisen wässerig machen lassen wollte, die er sowieso nie würde unternehmen können.

Eingewöhnung

Wir gingen wieder in eines der beiden billigen Restaurants, die ich bei meinem ersten Besuch schon mit ihm aufgesucht hatte. Die Wirtin erkannte mich sofort wieder und begrüßte mich freudig. Während ich mit José am Tisch saß und aß, wollte er mir die Mittvierzigerin als gute Partie zum Heiraten aufschwätzen. Da mir die Geschichte peinlich war und die Frau es geflissentlich zu überhören schien, wechselte ich rasch das Thema.

Zurück auf der Straße trafen wir einen dicken Mann, an den ich mich nur undeutlich erinnerte. José fragte mich in seinem Beisein, ob ich mich an ihn erinnere, was ich allerdings verneinen mußte, weil ich nicht wußte, wo ich ihn unterbringen sollte. Es war der Besitzer des anderen Restaurants, in dem wir zu essen pflegten. Ich erklärte es damit, daß ich mich eher an seine Angestellten erinnerte, weil ich mit ihnen mehr Kontakt gehabt hatte. Außerdem war die Anzahl der Leute, die ich auf der Reise kennengelernt hatte unüberschaubar. Zum Abendessen bin ich in seinen Laden und habe meistens zwischen den beiden Restaurant abgewechselt.

José setzte vorraus, daß ich mich an so vieles erinnerte, was leider nicht immer der Fall war, denn ich war ja nicht nur in seiner Stadt gewesen, sondern hatte unzählige Orte besucht. Hinzu kam, daß ich an die schon etwas andere Mentalität der Menschen in den Anden gewohnt war und einige Zeit brauchte, um mich wieder an die leichtlebigen Küstenkolumbianer zu gewöhnen. Einmal sagte ich ihm leicht verärgert, daß ich am Vortag noch bei den „Inkas“ gewesen sei und daß es da anders zugehe. Er antwortete nicht, aber in der Folge bemerkte ich durchaus eine größere Rücksichtnahme, damit ich mich wieder eingewöhnen konnte.

Um meiner Finanzmisere zu begegnen mußte ich ihm klarmachen, daß ich nicht mehr täglich würde beschäftigen können. Er schlug mir daraufhin eine etwas seltsam anmutende Geldquelle vor. Ich traf einen seiner Freunde, der ein Geldwechselgeschäft betrieb. Als Kolumbianer mußte er die Dollars, die er bei der Bank eintauschte versteuern. Ausländer müssen das natürlich nicht. Also suchte er Leute, die für umgerechnet dreißig Mark bereit waren, zur Bank zu gehen und einen Betrag von knapp unter zweitausend Dollar zu tauschen. Der Betrag rührte daher, daß Ausländer ohne Grund nicht mehr tauschen durften. Außerdem nahm er jeden nur in Ausnahmefällen öfter, als zweimal im Monat, damit seine Nutzung dieser Gesetzeslücke nicht zu sehr auffiel, die dem Staat zwar bekannt war, dieser war aber offenbar nicht in der Lage, diesen Zustand zu beenden. Außerdem hatte ihm gesagt, daß ich bereit sei, mein Fahrrad zu verkaufen. Oscar, der Geldwechsler, war daran interessiert.

Zufrieden kehrte ich ins Hotel zurück, um Siesta zu halten. José habe ich aber anschließend nicht mehr getroffen. So unrecht war mir das nicht, denn ich war hierher gekommen, um mich zu erholen und mit José an meiner Seite war immer Action angesagt. Ich machte also allein einen Spaziergang durch die nicht sehr große Altstadt, an deren Aufbau ich mich sofort wieder erinnert hatte.

So fand ich das Hotel schnell wieder, von dem aus ich meine Berichte am Ende des ersten Aufenthaltes ins Internet gestellt hatte. Ich teilte der Mail-Gemeinde meinen neuen Aufenthaltsort mit und bat um Verständnis, daß es von hier aus nur noch wenige und kurze Berichte gäbe, weil ich endlich Urlaub machen wollte.

Ich holte ich dem Abendessen Bier für den Kühlschrank im Foyer und machte es mir in einem der Sessel bequem. Da an diesem Abend wenig los war, setzte sich Marina zu mir und berichtete mir von ihren Verwandten in Japan, zu denen sie ziehen wollte. Nicht, daß sie Japan besonders gereizt hätte, aber einerseits hatte sie, wie viele ihrer Landsleute die ständige Gewalt satt, und andererseits erklärte sie mir, daß ihre Eltern, denen die Pension gehörte, ihr zu wenig Freiraum ließen. In der Tat war sie von früh morgens bis spät abends mit Reinigen, Gäste empfangen und anderen Arbeiten beschäftigt. Damit erklärte sie auch, warum sie diesmal von mir eine Mark mehr pro Nacht verlangte, als bei meinem ersten Aufenthalt. Später gesellten sich noch andere, junge Hotelgäste zu uns und das Gespräch wurde allgemeiner. Ich fühlte mich immer noch etwas müde und ging daher nicht allzu spät ins Bett.

Endlich etwas Erholung - aber doch keine Ruhe

Da ich einen ruhigen Tag einlegen wollte und sich der Sonntag dafür anbot, verhandelte ich nur kurz mit José und entließ ihn für den Tag. Nachdem ich mein Gepäck neu geordnet hatte, da ich nun nicht mehr mit dem Fahrrad unterwegs sein würde, machte ich einen Spaziergang ans Meer und genoß den leicht kühlenden Wind und die Brandung hinter der Stadtmauer. Hier war der Strand zum Baden zu steinig, so daß ich hier halbwegs meine Ruhe hatte, aber von weitem sah ich, wie überfüllt der Badestrand an diesem Sonntag war.

Auf dem Rückweg traf ich José erneut, aber diesmal rein zufällig und wir nutzten die Gelegenheit, um ein Bier zu trinken. Zum Mittagessen bin ich allerdings allein gegangen. Ich hielt ausgiebig Siesta, soweit die drückende Hitze es zuließ. Später beendete ich meine Packaktion und lief noch eine Weile durch die Gassen der Altstadt. Dabei machte ich mir klar, daß Cartagena eigentlich nicht der richtige Ort zum Ausruhen war, weil hier ständig das pralle Leben pulsierte. Andererseits war ich auch deswegen hierher gekommen, weil ich hier mit die besten Erinnerungen an die Menschen hatte. Leute, mit denen ich mich sehr gut verstanden hatte.

Als ich an einem Markt vorbeikam, sprach mich ein etwa zwanzigjähriger Verkäufer an und versuchte seine durchaus hochwertige Unterwäsche an den Mann zu bringen. Als ihm das nicht gelang, wollte er mir Gras verkaufen. Ich konnte ihn aber schnell davon abbringen. Anderswo hätten mich die Leute wohl viel mehr genervt, mit ihren Versuchen, irgendwie an das Geld von Touristen zu kommen, aber hier war alles von solcher Leichtigkeit, daß ich bestenfalls schmunzeln konnte. Insofern war ich hier schon richtig.

Nach dem Essen traf ich den Besitzer des Restaurants vor dem Eingang und kam mit ihm ins Gespräch. Üblicherweise fängt hier eine Konversation mit der Bemerkung über die große Hitze an. Diesmal blieben wir jedoch beim Wetter und er fragte auch nach dem Wetter in Deutschland. Daß es im Winter Eis und Schnne gab, erzeugte in ihm sichtlich Unbehagen. Ich fragte ihn daraufhin, wie denn hier der Winter aussehe. Im Januar sagte er, sei das Wetter unfreundlich und die See stürmisch. Und es wäre kalt. Kalt, in der Karibik? Ich fragte ihn, was er unter kalt verstehe. Na, kalt eben. So daß er den Mantel bräuchte? Ja, doch, man müsse sich wärmer anziehen. Ich ließ nicht locker. Wieviel Grad es denn hätte, wollte ich wissen. Nach einigem Hin und Her einigten wir uns auf zwanzig Grad. Ich konnte mich nicht beherrschen und lachte laut auf. Bei zwanzig Grad packte man also hier den Wintermantel aus.
Der Abend verlief planmäßig wie immer. Durst löschen im Hotelfoyer beim Fernsehen und leichter Konversation mit anderen Gästen.



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