Tagebuch
70. Copacabana
Von der Grenze in den Ort
Auf der bolivianischen Seite der Grenze, in Kasani, hatte ich etwas Wartezeit, da ich nicht der einzige war, der gerade einen Einreisestempel brauchte. Ich nutzte die Gelegenheit, die Uhr eine Stunde vorzustellen, weil ich mit der Grenze eine Zeitzone passiert hatte. Da die Zöllner mir bisher immer drei Monate Aufenthaltszeit genehmigt, oder wenigstens gefragt hatten, wie lange ich bleiben wollte, war ich ziemlich überrascht, als ich nur vier Wochen las. Ich monierte das sofort, aber der Zöllner schickte mich nach La Paz, um dort eine Verlängerung zu beantragen. So sei es hier Usus, behauptete er. Jedenfalls änderte er den Eintrag nicht mehr und ich hatte gleich den richtigen Eindruck vom Staat Hugo Banzers. Weil der diesmal offiziell gewählte Staatspräsident bereits Ende der Sechziger, damals noch als Oberst, geputscht hatte und sich, wenn auch in geringerem Ausmaß, aber doch, wie Pinochet in Chile und die Militärs in Argentinien an der Bevölkerung vergangen hatte, war er für mich schon vor meiner Abreise ein rotes Tuch gewesen.
Die Straßenqualität der auf der bolivianischen Seite der Grenze ungeteerten Straße war miserabel. Hinzu kam der seewärtige Wind, der im Lauf des späten Vormittags immer heftiger wurde. Wenigstens verlief die Piste die ersten zehn Kilometer halbwegs nach unten, um mich dann zu einen vier Kilometer langen Aufstieg zu zwingen. Auf der Paßhöhe blickte ich hinunter auf die Halbinsel Manco Capac, die nach dem ersten legendären Inkaherrscher benannt ist und den Ort Copacabana. Das Wort bedeutet Seeblick und der Ort war bereits lange Wallfahrtsort, bevor irgendjemand in Brasilien überhaupt an die Gründung des weltbekannten Strandbads neben dem Zuckerhut dachte. Ich fuhr hinab und genoß den Blick über den tiefblauen See und den Ort mit seiner malerischen Umgebung. Nach Plan fand ich das Hotel, checkte ein und aß dort zu Mittag. Das Essen war zwar gut, aber bei der Bezahlung, wollte man mich übervorteilen. Ich bezahlte zwar, aber trotz der Rechtfertigungsversuche des Geschäftsführers später, ließ ich dort kein Geld mehr.
Copacabana
Nach der Dusche und der Siesta sah ich mir den durchaus schönen, aber stark touristisch geprägten Ort an, den die Spanier Mitte des sechzehnten Jahrhunderts entdeckt und übernommen hatten. Ich sah zwar nur wenige koloniale Häuser und die Straßen waren ungeteert, aber ich hatte trotzdem einen guten Eindruck von dem Dorf, das ich auf etwa zwanzigtausend Einwohner schätze. Als ich an der maurischen Kathedrale vorbeikam, hatte ich eher den Eindruck, daß ich in Arabien sei und im Reiseführer steht, daß es sich um eine der schönsten Boliviens handelt.
Bevor ich ins ultrateure Internet ging, untersuchte ich eine tienda auf die lokalen Biersorten und Preise. Nicht, daß es zum peruanischen Bier keine Unterschiede gegeben hätte, aber es bewegte sich in der gleichen Kategorie, eben weit weg von deutschem Bier. Immerhin war der Preis etwas günstiger. Wie üblich in Touristenorten, und vor allen in Grenznähe zu einem Land, wo das Bier teurer ist, lag der Preis aber signifikant über dem Landesdurchschnitt. Nachdem ich meinen Bericht seit der Abreise aus Cusco der Mail-Gemeinde hatte zukommen lassen, war es bereits dunkel und ich ging Essen. Die Preise in Copacabana erinnerten mich stark an Cusco, obwohl ich zugeben muß, daß die Restaurants der Touristen wegen erheblich gediegener sind, als dies für die Einheimischen notwendig und bezahlbar ist. Aber auch hier gilt natürlich, daß ein Tourist in Konstanz oder Lindau ein Vielfaches mehr bezahlen muß, als das hier der Fall ist.
Mit ein paar Flaschen Bier, die ich, wie üblich, unsichtbar unter dem Poncho trug, kehrte ich im Regen auf den schlammigen Straßen ins Hotel zurück und bereitete mich auf die Bootsfahrt vor, für die ich, nach einigem Suchen, ein nicht allzu teures Billet gekauft hatte. Die Sonnen- und die Mondinsel gelten als Wiege der Inkakultur, und waren damit für mich unverzichtbar.
Die Wiege der Inkas
In dem Restaurant, in dem ich mich zum Frühstücken niederlies, schien man noch nicht richtig ausgeschlafen zu haben, denn es dauerte ziemlich lange, bis das Frühstück kam. Was mich normalerweise nicht sonderlich gestört hätte, brachte mich aber der Bootsfahrt wegen in Zeitnot, was ich an der Bedienung ausließ. Ich hastete zum Hafen, nur um dort feststellen zu müssen, daß sich wegen hohen Wellengangs und Sturm, in den sich Regen mischte, die Abfahrt hinausgezögert wurde. Man hätte, wie die denn auch später nötig, den zweiten Motor zum Einsatz bringen müssen, aber das hätte Benzin gekostet und den Gewinn geschmälert. Also ließ man die Fahrgäste auf dem Pier warten. Schließlich, mit halbstündiger Verspätung, legte das einzige Boot, das an diesem Tag die Inseln von Copacabana aus ansteuerte, ab. Vierzig bis fünfzig Leute saßen unter dem Dach des gut fünfzehn Meter langen und fast fünf Meter breiten Bootes dicht gedrängt auf Stühlen. Man hatte Rettungswesten ausgegeben, aber ich wollte trotz der kühlen Witterung und einer Durchschnittstemperatur des Sees von etwa acht Grad, keine.
Während der ersten Stunde saß ich eingekeilt auf meinem Stuhl und beobachtete die Wellen, die für den See mit gut eineinhalb Metern recht hoch waren. Dann ließ der Regen nach und ich begab mich aufs Dach, wo an der Reling rechts und links je eine Bankreihe stand. Von hier aus konnte ich die zunehmend erfolgreiche Sonne beobachten, die Wolken aufzulösen. Während anfangs nur einige Raucher kurzeitig heraufkamen, nisteten sich später zwei penetrante Touristengruppen ein, die eine aus den Niederlanden und die andere aus Israel, die die beschauliche Bootsfahrt nicht unbeträchtlich störten. Das Boot fuhr entlang der Manco Capac Halbinsel Richtung Nordwesten. Als das Boot nahe genug an der felsigen Küste war, erkannte ich bis über einen Meter mächtige Schichten eines metamorphen sandigen Sediments, dessen Schichtung eher gewellt, denn gefaltet war. Darüber erkannte ich die typische, baumlose Graslandschaft des páramos.
An der Engstelle von Yampupata, zwischen der Halbinsel und der Isla del Sol, steuerte der Kapitän nach Osten, durch diese Enge hindurch und fuhr der Sonneninsel an der Ostseite entlang. Ab hier konnte ich hinter dem Ostufer des Sees die beeindruckende Kulisse der Königskordillere geniessen. In einer Bucht der Sonneninsel sah ich ein totora-Schilfboot liegen. Es war zwar, wie die caballitos in Huanchaco aus diesem Schilfrohr, aber es war viel größer und eben ein richtiges Boot, mit Segel. Dieses erinnerte mich, nicht nur wegen des in einem Drachenkopf endenden Kiels, an ein Wikingerboot, bei dem die Ruder fehlten.
Etwa zweieinhalb Stunden nach der Abfahrt in Copacabana legte das Boot im Nordosten der Insel in Challapampa an. Für das kleine, eher schwache Museum des winzigen Ortes mußte extra bezahlt werden, alles andere war im Preis inbegriffen. Ich sah Keramiken, Textilien und Werkzeuge aus der Frühzeit der Inkas und deren Vorgängern. Vorbei am fast überdimensioniert erscheinenden Bolzplatz lief ich, immer wieder Leute aus dem Boot überholend, zuerst über Treppen, später über Trampelpfade die Hügel hinauf. Immer wieder genoß ich den Blick über den See und auf die Königskordillere.
Schließlich waren nur mehr drei junge US-Amerikaner in meiner Nähe, die sich mittels ihres Reiseführers bemühten, die Ruinen, denen der Ausflug galt, zu finden. Gut eine Dreiviertelstunde hatte der Aufstieg gedauert, bis ich am "Labyrinth der Inkas" stand. Ohne die geringsten Anzeichen von Erschöpfung machte ich mich an die Untersuchung der Wände. Das Labyrinth schien mir etwas übertrieben, da ich keine Mühe hatte, mich zwischen den etwa zwei Meter hohen Mauern zu bewegen, die nichts von der Architektur hatten, die ich in Cuzco hatte bewundern können. Sie erinnerten mich eher an die älteren chullpas von Sillustani, nur, daß die Wände nicht mit Lehm verputzt waren, wohl aber in den Fugen der unbearbeiteten Steine Lehm als Bindemittel enthielten. Ich lief eine Weile zwischen den Wänden herum, die als erster Inkapalast gedeutet werden, und rief mir in Erinnerung, daß auf der Insel Wiracocha, der bärtige Schöpfergott zur Welt gekommen sein sollte und von diesen Ruinen wahrscheinlich der legendäre Manco Capac zu seinem Marsch ins Valle Sagrado del Inca, das heilige Tal der Inkas, um Cusco, aufgebrochen war. Jedenfalls glaubt das heute noch die Quechua- und Aymarasprechende Landbevölkerung, sowohl hier in Bolivien, als auch in Peru. Gegenüber den Mauerresten sollte der Stein der Großkatze titi sein. Es gab hier etwas Auswahl, so daß ich Vorort nicht ganz sicher war, welcher gemeint war, aber zurück im Hotel nach nochmaligen Lesen in Reiseführer glaube ich, daß ich mir den richtigen näher angesehen hatte. Da caca Stein bedeutet, ist dies der Punkt, an dem der See seinen Namen verdankt.
Ich machte mich wieder auf den Rückweg und passierte den heiligen Stein, eine Art Menhir in der Landschaft, in dessen Nähe ich jedoch den Sonnentempel vergeblich suchte. Zurück im Ort fand ich eine tienda, wo ich mich stärkte. Mit ein paar Kräckern, als Ersatz fürs Mittagessen, machte ich mich zum Bootsteg auf. Eine gute Dreiviertelstunde brauchte das Boot zur Mondinsel. Das acllahuasi, das Frauenhaus, erschien mir recht arabisch in seiner Architektur, auch wenn es keine Kuppel hatte. Die Kathedrale in Copacabana stammt von den spanischen Eroberern, die ja bis ins Jahr der Entdeckung Amerikas gegen die Mauren in Spanien kämpften; daher ist diese Parallele leicht zu erklären, aber das Frauenhaus der Mondinsel ist viel älter, so daß ich meinen Eindruck hier nicht begründen kann. Seltsamerweise waren hier die Stützmauern des Hangs eindeutig der Blütezeit der Inkas zuzuordnen, wenn auch ohne die sonst typischen Wächternischen. Das Haus ist halb verfallen und kann nicht betreten werden. Auch mein Ausflug hinter das Gebäude brachte keine neuen Erkenntnisse.
Die Überfahrt zurück zur Sonneninsel dauerte nur eine knappe halbe Stunde. Hier gab es eine Inkatreppe und ein Inkabad zu sehen, das aber für mich nicht mehr neu war. Ich stieg die Treppen hinauf und folgte dem sich daran anschließenden Weg. Ich stieß auf einen kleinen Ort und genoß erneut den Rundblick, bevor ich mich auf den Rückweg machte. Da an einigen Punkten viel Zeit verloren worden und man zu spät aufgebrochen war, kam der Kapitän und fragte, ob man sich damit begnügte, den letzten Punkt an der Südspitze der Sonneninsel, den Templo Pilkocaina, lediglich vom Wasser aus anzusehen. Einerseits war ich nicht darüber begeistert, andererseits neigte sich der Tag dem Ende zu und eine Mehrheit nahm dem Vorschlag an, so daß ich nicht widersprach. Wie richtig diese Entscheidung war, zeigte auf dem Rückweg. Obwohl mir die Sonne das Gesicht verbrannt hatte, weil ich den Hut nicht mitgenommen hatte, war es selten und nur in der Sonne einigermaßen warm gewesen. Als das Boot im Hafen von Copacabana im letzten Sonnenlicht anlegte, zitterte ich vor Kälte, was ich absolut nicht von mir gewöhnt bin.
Obwohl das Restaurant Puerta del Sol [bezieht sich auf das am Südufer liegende Tiwanaku] einigermaßen renommiert war, fand ich es lediglich teuer. Ich ging in mein Zimmer, um das Fahrrad zu warten. Es wurde aber zusehends später, so daß ich beschloß, einen weiteren Tag in Copacabana zu verbringen. Die Lektüre der Reiseführer bestärkte mich, daß es hier noch genügend zu sehen gab.