Tagebuch
66. Cachora
Von Abancay nach Cachora
Auf der dreistündigen Fahrt, die zuerst der Straße nach Cuzco folgte, die etwa zehn Kilometer vor Abancay wieder eine Asphaltdecke hatte, verflachte das Gespräch mit dem freundlichen Mann etwas und ich hatte Gelegenheit, die hervorragende Landschaft zu geniessen. Besonders auf der Höhe des Soccllaccasa-Passes war der Rundblick auf teilweise schneebedeckte Gipfel und endlos tiefe Täler begeisternd. Nach einer kurzen Weile auf der Paßhochfläche, nach dem Abzweig nach Cachora, begann sich die Piste zu senken und ich sah auf der anderen Seite des tiefen Tals des Río Apurimac eine Kette schneebedeckter, schroffer Felsgipfel, die bis über sechstausend Meter hoch waren, im rötlichen Licht der untergehenden Sonne.
Cachora
Im Ort, nachdem ich den Bus verlassen hatte, zeigte mir der Mann, mit dem ich chicha trinken gewesen war, eine tienda, die Zimmer vermietete und Pferde verlieh. Hier quartierte ich mich mangels Alternativen ein. Das Zimmer über dem Verkaufsraum enthielt nur zwei Betten und hatte ein Fenster zum Hof. Fußboden, Wände und Decke waren aus Holz. Das Klo, im Hinterhof in einer Kabine bestand aus einem betonierten Loch mit Trittleisten. Anstatt einer Tür gab es lediglich einen Vorhang.
Eine der Töchter erbot sich, mir ein Restaurant zu zeigen. Auch hier war es sehr primitiv. Ich fragte das etwa sechzehnjährige Mädchen, ob sie eine Limonade trinken wolle, während ich beim Bier aufs Essen wartete. Ihr stand der Sinn aber nicht nach Trinken, sondern offenbar nach mir. Als ich während des Gesprächs mein Wörterbuch aus der Tasche zog, wollte sie es sehen. Sie suchte das Wort Liebe darin, um mir dann weismachen zu wollen, man würde "ich liebe dich" auf englisch sagen. Ich blieb sachlich und schaffte es damit, sie auf Distanz zu halten.
Zurück in der tienda, fragte ich nach den Möglichkeiten, ein Pferd zu mieten und zu den Ruinen von Choquekirao zu reiten. Dabei erwies sich die Information zum Preis des Hoteliers in Abancay, als überholt oder nur für Einheimische zutreffend. Jedenfalls sagte ich, daß ich mich anderweitig umsehen würde.
Eine andere tienda war schnell gefunden, in der ich mit dem Besitzer, Gamaniel Mosqueira Salazar, über Alternativen gesprochen habe. Aber auch er nannte mir den selben Preis, den ich bereits kannte und, nach den Aussagen des Hoteliers in Abancay, als zu hoch einstufte. So unterhielt ich mich mit Gamaniel, einer Kundin und erst einem, später einen zweiten Bullen angeregt über die Verhältnisse im Ort.
Als ich gegen halb zehn in die tienda zurückkehrte, in der ich mein Zimmer hatte, saß die Tochter, die mit mir beim Essen gewesen war, über ihren Hausaufgaben und hätte mich am liebsten nicht beachtet. Ich sagte ihr, daß ich mich weiter informiert, aber noch keine Entscheidung getroffen habe, wo ich mein Pferd leihen würde und bat sie, mich um sechs Uhr morgens zu wecken. Ihr Verhalten war aber unangemessen mürrisch, was mich wiederum verdrießte.
Ich erwachte von selbst kurz vor sieben und war entsprechend ärgerlich. Unter diesen Umständen war ich keinesfalls bereit, hier mein Pferd zu mieten. Und ich zog sofort aus. Anschließend machte ich mich sofort auf, um einen Führer und ein Pferd zu suchen. In einer anderen tienda, wo ich frühstückte und im Polizeiposten empfahl man mir einen anderen Führer, den zu finden ich mich sofort auf den Weg machte. Obwohl ich den Mann nicht kannte, sprach ich ihn auf der Straße auf den Weg zu seinem Haus an und er war sofort bereit, mit mir loszureiten. Ich mußte an der Plaza de Armas etwa eine halbe Stunde warten, bis er die Pferde aufgesattelt hatte. Dann ritten wir los.
Der Ritt nach Choquekirao
Da es kurz vor acht war, war ich der Ansicht, daß wir gut im Zeitplan lägen, denn, wäre ich mit dem Bus am frühen Morgen aus Abancay gekommen, wäre es eher noch ein paar Minuten später geworden und eigentlich, erfuhr ich später, war es üblich, den Weg an einem Tag zu bewältigen. Millner, der Führer, dessen Pferd ich ebenfalls von ihm mieten mußte, so daß ich pro Tag vierzig Soles, etwa fünfundzwanzig Mark bezahlen mußte, dachte aber offenbar nicht daran, seinen Teil der Vereinbarung zu erfüllen.
Bereits nach wenigen Kilometern eröffnete er mir, ich müsse auf ein Maultier umsteigen, weil dieses kräftiger sei, als ein Pferd. Richtig ist, daß alle Pferde die ich in dieser Gegend gesehen hatte recht klein waren, aber sie waren die Berge gewohnt und daher entsprechend zäh. Millner wollte also nur sein Pferd schonen. Er selbst ritt ebenfalls ein Maultier. Außerdem legte er unnötige Marschphasen ein.
Als wir um zwei Berge herumgeritten und gelaufen waren, kam der Abstieg ins fünfzehnhundert Meter tiefer gelegene Tal des Apurimac. Daß ich mein Maultier hier am Zügel führen mußte, leuchtete mir wegen der Steilheit des Pfads und dem damit verbundenen Sturzrisiko sofort ein. Unterwegs waren wir auf einen Mann getroffen, der mit seinem Maultier Proviant zu den Archäologen, die sich um die Freilegung des Ruinenkomplexes bemühten, brachte. Er brauchte ebenfalls nur einen Tag. Unglaublicherweise ließ Millner diesen Fußgänger überholen. Wir hätten eigentlich schneller sein müssen.
Trotzdem genoß ich den Ritt durch die wilde Berglandschaft. Mit dem Hut auf dem Kopf, gelegentlich eine Kippe wickelnd, kam ich mir wie ein Cowboy – naja, eher wie der Cowboy, gemeint ist natürlich der Duke – in der ziemlich menschenleeren Landschaft vor.
Der Blick auf die Schneegipfel gegenüber und in das Tal des Apurimac waren allerdings allein schon den Ausflug wert. Außerdem konnte ich die Ruinen von weitem mit dem Fernglas sehen. Als der Versorgungsläufer noch bei uns war, machten wir im Schatten einiger Bäume Mittag. Dabei aß ich eine Dose Thunfisch, die ich im Laden morgens gekauft hatte. Die vertrug ich offenbar nicht. Mir wurde zusehends übler. Hinzu kam, daß ich mir, wegen der vielen unnötigen Lauferei, Blasen an den Füßen zugezogen hatte. Unten im Tal des Apurimac, nach zwei Dritteln der etwa dreißig Kilometer langen Gesamtstrecke, war ich gezwungen, eine längere Pause einzulegen, in der Hoffnung, meine Übelkeit würde sich legen. Irgendwann traf das auch ein, aber zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu spät, um den Aufstieg noch beginnen zu können.
Ich baute also mein Zelt auf und Millner versorgte die Maultiere und richtete sein Lager im heißen Tal neben dem Fluß ein. Millner hatte gehofft, einen weiteren Tag herausschinden zu können, aber ich sagte ihm, daß wir am nächsten Tag zurückreiten würden. Ich weiß nicht, ob die Ruinen einen ganzen Tag erfordern, aber wenn man sich die Archäologen kooperativ zeigen und einem ein wenig Zeit widmen können, denke ich, daß drei Tage für den Ausflug angemessen sind. Darauf war ich, auch aufgrund dessen, daß mir der Hotelier in Abancay einen zu niedrigen Preis genannt hat, nicht eingerichtet. Millner verhielt sich am Abend und am folgenden Tag professionell und ließ sich seine Enttäuschung, bis wir wieder ins Dorf einritten, nicht anmerken.
Rückweg nach Cachora
Nach einem kurzen Frühstück ritten wir, diesmal fast die ganze Zeit, den gleichen Weg zurück, den wir gekommen waren. In der Nacht, in der mich die Insekten gequält hatten, war eins der Maultiere Opfer einer Vampirfledermaus geworden. Das geronnene Blut war über etwa zehn Zentimeter Breite über den Hals des Tiers gelaufen. Millner ärgerte das zwar, aber eine Beeinträchtigung seiner Leistung bemerkte ich nicht. Millner erzählte mir Märchen von einen Nachmittagsbus nach Abancay, den es nicht gab und wollte mir die Wartezeit nach unserem Eintreffen im Ort bis zur Abfahrt des Busses verkürzen. Als wir jedoch wieder zurück waren, wollte er nur noch sein Geld und verschwand schnell.
Der Ritt, der diesmal viel schneller vonstatten ging, als der Hinweg, war wieder ein besonders Erlebnis. Umgeben von der großartigen Landschaft, in klarer Luft und, als wir wieder hoch genug waren, auch angenehm kühler Temperatur, bewegten wir uns durch die verschiedensten Vegetationstypen, denn einige der Seitentäler die wir durchquerten waren feucht, andere trocken. Gelegentlich konnten wir verschiedene kleinere Tiere beobachten und ich sah von weitem einen Kondor kreisen. Wären nicht eigentlich die Ruinen, die als eine der letzten Fluchtburgen der Inkas vor den Spaniern angesehen werden, das Ziel der Exkursion gewesen, hätte ich rundum zufrieden sein müssen.
Wegen der Härten dieses Abschnitts der Reise und dem Verhalten der Peruaner, kam mir immer öfter und intensiver der Gedanke, einfach nach Kolumbien zurückzukehren. Ich verlor langsam die Lust an der Reise. In Kolumbien, so war ich überzeugt, hätte ich keine Motivationsprobleme. Dieser Gedanke setzte sich ab hier in meinem Kopf fest und irgendwann, so war ich überzeugt, würde ich, endgültig genug haben und mich in das nächste Flugzeug setzen, um dahin zurückzukehren, wo es mir am besten gefallen hat.
Noch eine Nacht Cachora
Nachdem sich Millner in Cachora davongemacht hatte, ging ich zu Gamaniel in die tienda und berichtete von meinem Ausflug. Er war nicht sehr begeistert vom Verlauf des Ritts, weil er zurecht um den Ruf des Ortes fürchtete. Der Grund dafür war, daß er ein zu dieser Zeit nicht angemeldetes Hotel im Haus hatte. Darin ließ er mich aber kostenfrei übernachten. Zum Ausgleich und, um den Ruf des Ortes hoch zu halten. Ich verbrachte den Größtenteil des Nachmittags im Verkaufsraum und unterhielt mich mit ihm. Nebenbei ergänzte ich meine Tagebucheintragungen. Klar, wenn die Reitgäste zufrieden sind und sich dies herumspricht, würde es sich für ihn lohnen, das Hotel aufzumachen und das Bauerndorf könnte vom Tourismus profitieren. Denn bisher lief der Großteil des Tourismus für die Ruinen über Cuzco, wo es Touranbieter gibt, die die Gäste mit Geländebussen direkt bis an die Ruinen fahren. Aber, um den Tourismus hier in Fahrt zu bringen, waren auch Maßnahmen notwendig, die nur die Provinzregierung in Abancay ankurbeln konnte, wie beispielsweise den Ausbau der Infrastruktur in und um Cachora.
Vor dem Abendessen trat ich vor die Tür und sah mir die Häuser an. An den Giebeln bemerkte ich seltsame Figuren und Symbole. Gamaniel erklärte mir dazu, daß es sich um Schutzgeister handelte, die die Bewohner vor Unheil bewahren sollten. Gegenüber befand sich ein Haus, das ich auf mindestens zwanzig Jahre schätzte, Gamaniel sagte mir ungerührt, daß das Haus etwa fünf Jahre alt sei. Die meisten Häuser hier waren nicht auf lange Lebensdauer angelegt und entsprechend billig im Bau. Dafür muß man offenbar mehrere Häuser in seiner Lebenszeit bauen. Gamaniels Haus war aber erheblich stabiler und konnte noch mindestens der nächsten Generation dienen. Außerdem beherbergt es ja sein Hotel. Zwar ebenfalls in einem kleinen Häuschen im Garten, war sein Bad richtig nobel und ich nutzte die Gelegenheit zu einer Dusche, bevor ich zum Abendessen ging.
Da sonst nichts zu tun war, stand ich abends wieder beim Bier in Gamaniels Laden und unterhielt mich mit verschiedenen Kunden und ihm selbst. Bevor ich mich auf mein Zimmer zurückzog, verabredete ich mit ihm, daß wir gemeinsam zum Bus nach Abancay, morgens um halb sechs, gehen würden, weil er in der Provinzhauptstadt selbst Geschäfte zu erledigen hatte.
Gamaniel weckte mich um fünf Uhr und ich packte meine Sachen. Unglücklicherweise verfügte das Zimmer, in dem ich übernachtet hatte, über keine Lampe und in der Hektik und Dunkelheit vergaß ich meine Gesteinslupe. Den Bus, zu dem wir gemeinsam liefen, erreichten wir ohne Probleme. Gamaniel saß neben mir, aber wegen des frühen Morgens, entwickelte sich keine rechte Unterhaltung. Nach Sonnenaufgang konnte ich immerhin wieder die Landschaft bewundern. In Abancay stieg ich vor Gamaniel aus. Am Vortag hatte er mich gebeten, ihm mein Bic-Feuerzeug zu überlassen, was ich jedoch abgelehnt hatte, weil ich es brauchte. Nachdem ich den Bus verlassen und mir eine Zigarette angezündet hatte, reichte ich es ihm durchs Fenster, während wir uns verabschiedeten. Ich sah in seinen Augen, wie sehr es ihn freute.
Von Abancay nach Cuzco
Zurück im Hotel, frühstückte ich und ging anschließend zu einem Busunternehmen, aber nicht zu dem, das mir vorher so unangenehm aufgefallen war. Hier bot man mir für halb elf eine Fahrt nach Cuzco an. Ich ergriff die Gelegenheit, denn meine Finanzreserven schwanden und erst in Cuzco konnte ich mit der Kreditkarte Geld ziehen. Der Hotelier und seine Familie bedauerten gleichermaßen meine Erlebnisse in Cachora, wie die Entscheidung, noch am selben Tag abzureisen. Die Tochter schenkte mir einige Fotos von Choquekirao, damit ich wenigstens einen Teil der Ruinen aus der Nähe gesehen hatte. In Gesprächen mit ihnen verbrachte ich die Zeit bis zur Abfahrt des Busses, die ich nicht zum Packen gebraucht hatte.
In dem Hinterhof des Busunternehmens wollte man mir trotz meiner Fahrkarte weismachen, es gäbe keinen Platz für das Fahrrad. Vermutlich wollte man ein Trinkgeld erpressen, aber ich wies die Gepäcklader zurecht, woraufhin das Fahrrad und das Gepäck ganz schnell in den Ladebuchten des Busses verschwanden. Die Abfahrt des Busses erfolgte mit Verspätung und an der Baustelle, an der die letzten Kilometer Asphalt nach Abancay getrieben wurden, stand der Bus eine habe Stunde. Immerhin konnte man den Bus in dieser Zeit verlassen.
Im Bus selbst saßen nicht sehr viele Fahrgäste. Einige Reihen vor mir saßen zwei junge Unternehmensberaterinnen aus München und daneben ein Arzt mit seiner Frau um die Fünfzig aus der Gegend von Hannover. Bereits nach wenigen Minuten ihrer Unterhaltung verlor ich jede Lust, mich als Deutschen zu erkennen zu geben. Das lag auch daran, daß ich nach den Monaten auf dem Fahrrad einen gänzlich anderen Blickwinkel für Land und Leute entwickelt hatte. Zugegeben, Pauschaltouristen kommen wohl nie in diese abgelegene Ecke und für ungeübte Einzelreisende ist es ein Abenteuer, sich bis hierher vorzukämpfen, denn es gibt keine direkte Busverbindung nach Lima. Trotzdem hatte ich mich einstellungsmäßig zu weit von ihnen entfernt, zumal sie, wahrscheinlich, weil sie zu den sogenannten Besserverdienern gehörten, die Zustände in Deutschland für meinen Geschmack viel zu kritiklos hinnahmen.
Während der insgesamt fünf Stunden dauernden Fahrt fand ich die Landschaft sowieso interessanter. Zuerst den bereits bekannten Weg zum Soccllaccasa-Paß, vorbei an den Schneebedeckten Gipfeln, die diesmal halb umfahren wurden, führte die Straße hinab ins Tal des Apurimac. Selbst an dieser Stelle, wo es wesentlich unspektakulärer ist, als dort, wo ich auf dem Weg nach Choquekirao übernachtet hatte und der Stelle, die die schwache Tourismusbehörde besonders empfiehlt, weil dort die Felswände weit über zweitausend Meter senkrecht abfallen, war die Landschaft beeindruckend. Der felsige Eindruck wurde von der schütteren, trockenen Vegetation eher noch verstärkt.
Die Fahrt auf den letzten gut viertausend Meter hohen Hullique-Paß wurde von einer Pause eingeleitet. Die Panoramen auf dem Weg und vor allem auf der Paßhöhe waren atemberaubend. Ich kenne die Alpen ziemlich gut, aber noch nicht einmal relativ, wenn man an die geringere Höhe denkt, habe ich dort Vergleichbares gesehen. Nach dem Paß folgte ein breites Tal mit viel Landwirtschaft und vergleichsweise dichter Besiedelung, dessen Ostseite von der beginnenden Cordillera Real, der Königskordillere, gekennzeichnet war. Schneebedeckte, felsige Berggipfel auf grünen Hängen. Ich konnte mich kaum sattsehen.