Tagebuch
59. Huanta
Im Tal des Río Mantaro
Daß der Tagesbeginn nach dem ätzenden Klo noch schlechter sein würde, glaubte ich zwar nicht, wurde aber eines besseren belehrt. Auch, daß mit einem Frühstück europäischer Prägung nicht zu rechnen war, war klar, aber der Innereien-Eintopf mit Kartoffeln, neben Reis mit Brötchen gab mir den Rest für dieses Kaff. Unglücklicherweise war die tienda, in der ich Schokolade kaufen wollte, um mich unterwegs zu stärken, geschlossen. Also stieg ich auf mein Fahrrad und sah zu, dieses elende Nest schnell weit hinter mir zu lassen.
Die Piste entlang des Mantaro wurde eher schlechter, als besser: entweder steinig oder schlammig, sowie viele Schlaglöcher und Spurrillen. Einige ungesicherte Bachübergänge verschlimmerten die Situation weiter. Immerhin traf ich diesmal einen Raupenbagger, der mich durch einen besonders tiefen, reißenden Bach brachte. Der Fahrer, der ein Bayerntrikot trug, konnte mich nicht auf die zu kleine Schaufel nehmen und ich mußte mit der Hilfe einiger Umstehender das Fahrrad auf die Raupe heben. Auch hier hatte es geholfen, daß ich mich als Deutscher vorstellen konnte.
Der Weg führte an vereinzelten Häusern, selten kleine Ortschaften, an den stellenweise weniger steilen Hängen des Mantarotals vorbei. Zu der Trockenvegetation, in deren Bereich ich zunehmend fuhr, paßte, daß die Bachtäler hier ausgetrocknet waren.
Andengeologie am Objekt
Nachdem ich anfänglich durch dunkle, gefaltete Schiefer gefahren war, fand ich mich später in Vulkaniten wieder, die mit einem purpurroten Sandstein wechsellagerten, den ich sofort als Rotliegendes, unteres Perm, identifizierte. Diese Farbe ist wohl weltweit charakteristisch für diese Sedimente. Die Bänke waren stark zerschert und die aufgebrochenen Klüfte und Bewegungsbahnen enthielten reichlich Quarz. Nachdem ich etwa zwanzig Kilometer hinter mich gebracht hatte, begann ein ziemlich harter Anstieg, der mir mindestens zweihundertfünfzig Meter Höhengewinn abverlangte. Die Landschaft wurde durch das sich dramatisch verengende Flußtal immer beeindruckender.
Als ich endlich oben war, sah ich ein sehr dichtes schwarzes Gestein, das rostrot verwittert war: Hämatit, ein Eisenoxid. Es war deutlich zu erkennen, jedenfalls, wenn man weiß, worauf man achten muß, daß die Hämatitlage einen morphologischen Sattel, das heißt, eine Aufwölbung bildete. Ob es sich nicht aber ursprünglich um eine Mulde handelte, die im späteren Verlauf der Gebirgsbildung überkippt worden war, hätte nur eine eingehende Untersuchung, zu der ich mich in diesem Moment zwar verpflichtet, aber mangels Zeit und Ausrüstung nicht in der Lage fühlte, offenbart.
Die Straße, die weiter unten wohl kaum weniger Einschnitte erfordert hätte, blieb einige Zeit auf ungefähr der gleichen Höhe – kleinere Anstiege waren aber an der Tagesordnung – und führte mich abrupt in bankige Kalke. Den Übergang konnte ich an einem Bergsturz, der bestimmt hundert Höhenmeter entlang der Schichtgrenze freigelegt hatte, genau zu sehen. Aufmerksam wurde ich aber zugegebenermaßen erst, als ich an der Straße nach einer Kurve größere Kalksteinblöcke liegen sah. Ich hielt an, um mir den deutlich diskordanten Übergang genauer zu betrachten. Diskordant bedeutet, daß die unterliegenden Schichten vor der erneuten Sedimentation bereits gefaltet und möglicherweise sogar erodiert worden waren, bevor die kalkigen Meeressedimente sich darauf ablagerten.
Ich fuhr weiter leicht bergab, als mir kurz darauf der Atem stockte. Eine einzelne, riesige, auf mindestens zweihundert mal dreihundert Metern aufgeschlossene Falte in Kalk dominierte den Blick auf der mir gegenüberliegenden Felswand. Die Schlucht, entlang derer ich mich bewegte, würde wohl auch ein geologischer Laie als atemberaubend bezeichnen, aber ich hatte nur noch Augen für diese gewaltige Struktur.
Die beigen und braunen Straten kamen fast senkrecht aus dem vom Fluß verdeckten Teil des Anschnitts und bogen knapp über dem Flußniveau um und verliefen hier wellig-horizontal, der Oberfläche parallel, um dann nach fast dreihundert Metern senkrecht nach oben aufzusteigen. Überwältigend! Die Spur der Faltenachsenfläche war deutlich zu erkennen; dazu, bedingt durch die unterschiedliche Kompetenz – das ist im Prinzip die Härte des Gesteins – der einzelnen Lagen, Spezialfaltung, Schichtverdickung und -ausdünnung, sowie weitere schichtinterne Deformationen. Hier fand ich alle Elemente der Gesteinsfaltenlehre wie aus dem Lehrbuch ausgebreitet vor mir. Ich habe vorher und nachher, völlig unabhängig von dieser Reise, niemals eine derart umfassende Formenvielfalt in einer einzigen Falte gesehen!
Ich mußte absteigen, und mich auf eine Stein am Stradenrand setzen, um diesen großartigen Anblick würdig zu gestalten. Vergessen war der Rundblick, den ich über die Gipfel der Berge ein paar Minuten vorher gehabt hatte, vergessen die Mühen des Aufstiegs, die widrigen Umstände, unter denen ich den Tag begonnen hatte. Nur noch ich und die Falte. Ich glaube, in diesen Augenblicken hätte mich ein Bergsturz, hinter mir oder unter mir am Straßenrand, der mich hätte verschlingen können, völlig kalt gelassen.
Endlich konnte ich mich losreißen und setzte die Abfahrt fort. Fast erwartungsgemäß durchfuhr ich wieder die Vulkanite und silbrigen Schiefer, die ich beim Ansteig gesehen hatte.
Entscheidung in Mayoc
Auf dieser Seite des Passes setzte sich die Trockenheit fort, jedenfalls bis kurz vor Mayoc. Das Tal war hier wieder erheblich breiter und der Fluß beträchtlich träger, aber die Besiedlung immer noch recht dünn. Kurz vor Mayoc schien das lokale Klima wieder etwas feuchter zu sein, wie der Pflanzenwuchs anzeigte. Auf den letzten zwei Kilometern war die Straße aber eine Katastrophe, der Schlamm war fast knietief.
Die reine Sattelzeit für die knapp vierzig Kilometer hatte gut drei Stunden betragen. Als ich ziemlich erschöpft und ausgelaugt den Ort erreichte, orientierte ich mich wieder am Bericht des Engländers, um ein Restaurant zu finden. Hier stärkte ich mich zuerst mit einem Bier, bevor ich mir ein Essen bestellte. Die Linsen, die auf Reis serviert wurden, das einzige, was da war, erwiesen sich als wenig nahrhaft und ziemlich schwer verdaulich.
Immerhin sah ich, fast zu spät, als er schon fast im Gehen begriffen war, den Baggerfahrer vom Vormittag wieder und begrüßte ihn freundlich. Ein Grund dafür, daß ich ihn so spät bemerkte, war, daß man mich wieder in Beschlag genommen hatte und mich geradezu belagerte. Unter den „Fans“ war ein weiterer Baggerfahrer aus Lima, der mir anbot, auf dem Bauhof das Fahrrad zu reinigen, der als Stützpunkt für die Baumaschinen diente, die in der Umgebung eingesetzt waren, um das Geld für einen vernünftigen Ausbau der Straße zu sparen. Da man mir, weil ich mich negativ über die Übernachtung in Anco geäußert hatte, nicht unbedingt ein Zimmer – zumal ohne Dusche –, die es hier wohl gab, nicht anbieten wollte, drängte man mich, den Bus, der später hier vorbeikam, nach Huanta, der nächsten Etappe, zu nehmen.
Zuerst aber ging’s auf den Bauhof, wo der Baggerfahrer Jaime und seine Freunde mir das Fahrrad reinigten, während ich mich um die verschlammten Satteltaschen kümmerte. Dafür mußte ich ihnen vom Verlauf meiner Reise erzählen. Ich trug noch Sprühöl auf die trockene Kette auf und wir kehrten ins Restaurant zurück, wo ich gerade noch ein schnelles Bier schaffte, bis er Bus kam. Jaime und seine Freunde hielten ihn an und halfen mir, das Fahrrad im Gepäckraum zu verstauen, bevor wir uns herzlich verabschiedeten.
Es waren etwa fünfunddreißig Kilometer nach Huanta, immer noch entlang des Mantaro. Kurz nach Mayoc kam eine stählerne Hängebrücke. Ich hatte den Kopf zum offenen Fenster des nicht voll ausgelasteten Busses gestreckt und mußte ihn abrupt zurückziehen. Die Brücke war nur wenige Zentimeter breiter als der Bus. Kompliment an den Fahrer, der die etwa dreißig Meter schaffte, ohne hängenzubleiben. Abgesehen von einigen Hängebrücken aus Seilen und Holz, die nur für Fußgänger und vielleicht Esel gangbar waren, war dies der erste Übergang seit Mariscal Cacerés.
Hinter der Brücke begann ein Anstieg, in dem die Trockenheit der Landschaft noch größer war. Es wuchsen nur noch Kakteen und Sukkulenten auf dem von seltenen, aber offenbar heftigen Regenfällen stark erodierten Boden. Die dabei in den Konglomeraten – das sind verfestigte Ablagerungen von verschieden großen, gerundeten Geröllen – des Flusses entstandenen Formen, waren beeindruckend.
Auf der Hochfläche und auf dem Weg hinab ins Tal der Nebenflüsse, die von Huanta und Ayacucho kommen, konnte ich den Blick auf das Panorama einer Gebirgskette von über viertausend Meter hohen Bergen geniessen. Die Hänge sahen aus der Entfernung grün aus, schienen aber nicht landwirtschaftlich genutzt zu sein. Auf der etwa einstündigen Fahrt, auf der unabhängig von dazwischenliegenden Pässen, etwa dreihundert Höhenmeter gewonnen wurden, sah ich immer wieder grüne Agrarinseln in der Halbwüste. Die Straße war aber nicht besser geworden, höchstens staubiger, statt schlammig, dafür sah ich einige heftige Anstiege, die mich viel Kraft gekostet hätten.
Huanta
In Huanta verließ ich den Bus an der Endhaltestelle, einen großen Marktplatz, der voller Menschen war. Nachdem ich schnell aufgesattelt hatte, weil ich zu solchen Menschenmassen nirgends Vertrauen habe, wühlte ich mich in ruhigere Regionen durch und erfragte die Plaza de Armas. Hier sah ich ein Restaurant, das der Engländer in seinen SAEC-Berichten erwähnt hatte und ging hinein. Ich erfragte beim Servicepersonal eine Unterkunft in der Nähe. Man verwies mich zwei Straßen weiter in ein großes, schönes Kolonialhaus mit schönen Gärten und fließend Warmwasser. Das für das Fahrrad bequeme ebenerdige Zimmer, dessen meterdicke Wände immer ein angenehmes Raumklima erzeugten, hatte ein eigenes Bad und war hervorragend ausgestattet. Dazu fand ich die Atmosphäre des Hauses still und friedlich. Wie für Herzöge eben, wie der Name der Posada del Marqués implizierte. Und den Preis fand ich mit gut sechzehn Mark äußerst günstig.
Zum Abendessen kehrte ich ins Restaurant Central zurück, um mir ein riesiges Schnitzel zu gönnen. Als ich gegessen hatte, kam ein kleiner Junge, der mit seinen Eltern am Nebentisch gesessen hatte, zu mir an den Tisch und fragte, ob ich Deutscher sei. Etwas verwundert, wie er denn darauf gekommen war, bestätigte ich, worauf sein Vater sich zu mir setzte und sich als Südostpfälzer zu erkennen gab. Ich war froh, mal wieder Deutsch reden zu können und wir unterhielten uns eine Weile, bis mich der Mann in seine Werkstatt einlud.
Der Pfälzer
Hier braute er Bier, kelterte Wein und brannte Schnaps. Über seinem Hausbraü, das für meinen Geschmack zu wenig Hopfen besaß, setzten wir unsere Unterhaltung fort. Hopfen, gab er zu, sei ein Problem. Weil Hopfen die Winterpause braucht, das Klima hier aber zu ausgeglichen ist, wächst er nur in einer kleinen Region nahe Cusco, ansonsten in Chile. Er führte seinen Hopfen aus Bayern ein. Sein Schnaps sagte mir mehr zu, auch wenn er aus Steuer- und damit Verkaufsgründen zu wenig Alkohol besitzt. Leider konnte ich keinen Wein von ihm probieren, weil in diesem Jahr die Ernte zu schlecht ausgefallen war. Er hatte eine Peruanerin geheiratet und lebte schon einige Jahre in dem schönen Ort hier. Daher wußte er auch, daß der Tee, den ich vermißte, auch hier in Peru angebaut würde, aber in viel zu geringen Mengen, wieder nur in der Nähe von Cusco.
Ein weiteres interessantes Gesprächsthema war Gold. Von den Seifenlagerstätten, das sind Ansammlungen ausgeschwemmten Goldes, am Río Madre de Díos, im Urwald, an der Grenze zu Bolivien, hatte ich schon gehört. Die Inkas kannten diese, wie auch primäre, das heißt im Muttergestein befindliche, Goldlager, die sie intensiv abgebaut hatten. Wie spätere Wiederentdeckungen bewiesen, sind immer noch nicht alle Inkastädte bekannt. Er berichtete mir aus dem Urwald, wo weiße Händler Indianern Gold im Verhältnis eins zu eins gegen Salz hatten abhandeln können. Ein bekannter peruanischer Journalist soll nach Wochen des Umherirrens im Urwald eine goldene Treppe gefunden haben. Zurückgekehrt ist er allerdings halb verhungert und geistig etwas verwirrt, weshalb die genaue Lage weiterhin unbekannt ist. Die ganze Gegend am Osthang der Anden gilt als gefährlich, weil sich einerseits Kokabauern beziehungsweise die Drogenmafia und das Militär immer wieder Scharmützel liefern und die Indianer, die inzwischen gemerkt haben, daß sie nur ausgenutzte Opfer sind, inzwischen nicht immer gut auf Weiße zu sprechen sind.
Irgendwie wurden wir aber nicht richtig warm miteinander, denn sonst hätten wir Dialekt reden müssen. Außerdem erschienen mir seine Landeskenntnisse nicht so umfassend, wie sie das nach Jahren des Aufenthalts hier hätten sein müssen. Vielleicht lag das daran, daß er mit einer Peruanerin verheiratet war und so glaubte, auf eigenes Wissen verzichten zu können.
Umzug
Nach der langwierig-lästigen Suche nach einem adäquaten Frühstück, widmete ich mich ausgiebig dem Fahrrad. In dem schönen Hof des Kolonialhauses reinigte und wartete ich einige Stunden lang das Fahrrad. Der Hotelbesitzer kam vorbei und unterhielt sich eine Weile mit mir. Anschließend ging ich zum Mittagessen. An der Plaza de Armas fand ich ein gutes Restaurant, El Patio. Auf dem Platz selbst fand gerade eine Demonstration gegen die allgegenwärtige Korruption statt, die die Gewerkschaft organisiert hatte. Der Platz war voller Menschen, aber ich hatte keine Mühe zu dem Restaurant zu gelangen. Nach dem empfehlenswerten Essen in schönen Ambiente, patio bedeutet Innenhof, kehrte ich zur Siesta ins Hotel zurück.
Anschließend packte ich, holte, die morgens im Hotel in Auftrag gegebene Wäsche ab. Man hatte mich bereits am Vortag gewarnt, daß eine Reisegruppe ankäme und ich mein Zimmer nicht behalten konnte, weil das Hotel ausgebucht war. Die Ersatzkammer mit Außenklo sagte mir aber nicht zu, zumal in diesem Teil des ausgedehnten Gebäudekomplexes ein Teil der örtlichen Universität untergebracht war. Hier herrschte mir zuviel Aktivität. Also machte ich mich auf die Suche nach einem anderen Hotel. Im Hotel Ambassador, das zwar einen guten Eindruck machte, verweigerte man mir das Fahrrad auf dem Zimmer und die Pension Confort, wo der radelnde Engländer übernachtet hatte, war mir zu einfach. Schließlich fand ich, nicht weit entfernt, die Hospedaje Huanta. Schöne, neue Zimmer, eigenes Bad, in dem des Wasser allerdings hätte wärmer sein dürfen. Leider war nur ein Zimmer zur Straße frei, weswegen ich es etwas laut fand.
Die drei Schwestern, die mit ihrer Mutter das Hotel führten, überzeugten mich, den Plan zu ändern. Anstatt am nächsten Tag weiterzufahren, könne ich von hier aus die Huari-Ruinen, zu denen ein Weg fast auf der halben Strecke nach Ayacucho abzweigte, besichtigen. Diese Variante erschien mir billiger, zumal ich in Ayacucho mit höheren Hotelpreisen rechnete. Ich unterhielt mich eine Weile mit den Mädchen, die mir interessante Unterlagen über Ruinen ausliehen, darunter die Arbeit eines Archäologen von der Universität in Ayacucho, damit ich eine bessere Vorstellung von dem, was ich sehen würde, bekam.
Auf dem Rückweg vom Abendessen durch den Ort, dessen Zentrum ich mit seinen Palmen und dem umgebendenden Bergpanorama sehr schön fand, sah ich bereits erste Vorbereitungen für das Straßenfest, das am nächsten Tag stattfinden sollte. Der Ort, der nach meiner Schätzung etwa dreißigtausend Einwohner zählt, liegt auf knapp zweitausendsechshundert Metern Höhe und verfügt damit über ein sehr mildes, ausgeglichenes Klima. Obwohl er über mindestens eine Disco und mehrere echte Kneipen verfügt, gab es kein Internet. Ich vermutete, Probleme mit der Telefonleitung, denn ich sah ein Internetschulungszentrum, das ziemlich verwaist aussah.
Im Hotel beschäftigte ich mich mit den Informationsmaterialien, die ich zu den Huari-Ruinen erhalten hatte, um für den anstehenden Ausflug vorbereitet zu sein.
Die Ruinen von Huari
An diesem Tag hatte ich mit dem Frühstück mehr Glück. Ich fand Milch und Gebäck in einer tienda. Nachdem ich am Vortag bereits mit dem South American Explorer Club in Cusco telefoniert hatte, um die generellen Bedingungen herauszufinden, rief ich meine Eltern an, um mir ein Paket mit Ersatzteilen für das Fahrrad, die ich hier nicht bekommen hatte, schicken zu lassen. Dann machte ich mich auf den Weg zu den Kleinbussen, die nach Ayacucho fuhren, da man mir weismachen wollte, ich müsse unbedingt über die Departementshauptstadt fahren, um nach Huari zu gelangen. Ich bestand allerdings darauf, an der Kreuzung nach Quinuas aus dem Kleinbus gelassen zu werden, um mir von da aus die Anschlußfahrt selbst zu suchen.
Der Weg führte aus Huanta heraus und stellenweise steil auf einen gut zweitausendneunhundert Meter hohen Paß, von dem aus ich die vegetationsarmen, braunen Berge der Umgebung gut sehen konnte. Außerdem wußte ich nun, was mich auf der nächsten Etappe mit dem Fahrrad erwartete, auch wenn mich die Aussicht auf stundenlanges Bergauffahren wenig begeisterte.
Am Abzweig nach Quinuas mußte ich nicht lange warten, bis ein LKW anhielt, auf dessen gut zwei Meter hoch mit Holz umzäunter Ladefläche bereits einige Passagiere standen. Ich kletterte hinein und der Laster fuhr los. Ich hatte mich auf einen Ersatzreifen gestellt, um über den Verschlag blicken zu können. Die Landschaft um mich herum war atemberaubend. Über dem feingeschichteten Sandstein, den ich an der Straße anstehen sah, war der Boden von tiefen Erosionsrinnen zerfurcht. Im Hintergrund sah man gelegentlich die umliegenden Berge sich gegen den tiefblauen Himmel abhoben. Die starke Sonne ließ mich den etwas kühlen Fahrtwind kaum spüren. Ich bedauerte fast, daß der LKW schließlich vor dem Eingang der Ruinenstätte anhielt und ich mit einem der Fahrgäste, mit denen ich kurze Gespräche geführt hatte, die Ladefläche verlassen mußte. Der junge Mann, der mit mir ausgestiegen war, entpuppte sich als der Kassierer für die Ruinenanlage.
Gegeben hatte es die Huari bereits um die Zeitenwende, aber ihren kulturellen Höhepunkt erreichte sie zwischen 600 und 1100. Daß sie später immer noch wichtig waren, zeigt, daß die Inkas sie 1437 bei der Schlacht im Winkel der Toten, in Ayacucho, militärisch besiegen mußten, um sie zu unterwerfen. Während ihrer Blütezeit waren sie der militärische Arm der Tiahuanaku-Kultur am Titicacasee. Sie verbreiteten diese in der nördlichen Sierra bis Cajamarca, an der Küste sogar bis Lambayeque. Im Süden reichte ihr Imperium bis Moquegua an der Südküste und bei Cusco, das es zu diesem Zeitpunkt noch nicht gab, grenzte es an das Reich der Tiahuanaku am Titicacasee. Kennzeichen ihrer Kultur sind Stadtmauern, befestigte Straßen, bewässerter Terrassenfeldbau, bemalte Keramiken, gewebte Textilien und eine fortschrittliche Metallbearbeitung.
An drei Stellen waren von den Archäologen, innerhalb des sich über mehrere Quadratkilometer erstreckenden Areals, Teile der Stadt in der zu Hochzeiten sicher einige zehntausend Menschen wohnten, augegraben worden. Ich lief zwischen den hauptsächlich durch ihr Alter von fast zweitausend Jahren beeindruckenden, nicht sehr großen, aber noch mit weißen Innenputzresten ausgestatteten Gebäuden. Auffällig fand ich die unterschiedlichen Gesteinstypen, die zum Bau verwendet wurden, denn es waren nicht nur die beschriebenen Vulkanite und die drei verschiedenen Bearbeitungsstufen, in denen die verwandten Steine vorliegen: von unbearbeitet herausgebrochenen und mit Mörtel verbunden, über – auch darüber! – etwa doppelt backsteingroße Quader bis hin zu ziemlich großen bis etwa zwanzig Zentimeter dicken Steinplatten, die meist die obere Abdeckung darstellen, verwandt wurde. Dazu immer wieder offene, D-förmige Konstruktionen. Auffallend sind auch die vielen Wandnischen. Kleine Räume, aber verschachtelt, scheint hier üblich gewesen zu sein. Zu sehen waren hier noch die Ansatzpunkte für die wohl hölzernen Zwischendecken. Es waren nicht nur Wohnhäuser, sondern auch religiös genutzte Stätten und so etwas wie Mausoleen. Im Gegensatz zu anderen Stätten konnte ich zwischen den immer noch bis über drei Meter hohen Wänden ungehindert spazierenlaufen.
Weil das Gelände unzureichend beschildert war, kam ich etwas vom Weg ab. Dabei stieß ich auf eine Höhle, die offenbar rezent von Einheimischen Liebespaaren genutzt wird, wie einige Graffitties beweisen, als daß sie historischen Wert hätte. Die viele Hektar große Anlage ist nur zum kleinen Teil ausgegraben, der große Rest liegt unter einem Wald aus übermannshohen Feigenkakteen mit Steinhaufen – den oberirdischen Resten der Huari-Gebäude. Die vorher schon am Wegrand häufig gesehene Kaktusart zeichnet sich durch ovale Einzelsegmente aus, die etwa doppelt handgroß werden, Stachelcluster aufweisen, die auseinander hervorgehen und mit der Zeit unten verholzen um echte Stämme bilden, an denen die nächsten Generationen hängen. An den äußersten Segmenten befinden sich die Knospen, aus denen gelbe Blüten entspringen. Die jüngeren Teile der Pflanze erinnern eher an Sukkulenten, sind wasserreich und haben eine innere Struktur. Weniger häufig sah ich zylindrische Kakteen, die bis etwa drei Meter hoch waren.
Myriaden von braunen Heuschrecken waren gelegentlich unter meinen Füßen aufgeschreckt. Aber wenige, richtige Grashüpfer, gab’s auch. Ich bin eine ganze Weile durch eine Vielzahl von Trampelpfaden getappt, auf denen ich irgendwann endlich, nach einigem Probieren und Suchen, einen Weg zum unteren Teil der Ruinen fand, bei dem auch das eher mickrige Museum ist.
Der untere Teil der Ruinen weist erheblich größere Gebäude auf, die von verschiedenen Archäologen freigelegt und überdacht wurden, unter anderem, ein großer D-förmiger Komplex mit Nischen, der, wenn er nicht Tempel war, mich an den Ältestenrat erinnert hat. Hier gibt’s auch eine zwölf Meter hohe Mauer, jedenfalls teilweise, und noch einige zweistöckige Grabanlagen, die durch große, relativ glatte Steinplatten gekennzeichnet sind.
Das Museum war ziemlich schwach und erklärte kaum den sichtbaren Teil der Ruinen ausreichend. Inzwischen hatte sich eine größere Anzahl Besucher eingefunden und ich wartete zwischen einigen Einheimischen, deren Felder überall in der Landschaft waren, auf ein Fahrzeug, das mich zur Straßenkreuzung brachte. Hier hatte ich schneller Erfolg, weil die Straße zwischen Huanta uns Ayacucho befahrener war.
Philopsophie für den Hausgebrauch zum Abschied
Im Ort traf ich den Besitzer der Posada del Marqués, der mir das Patio zeigen wollte. Ich bin mit ihm Essen gegangen und wir führten eine gute Unterhaltung. Zurück in meiner Pension, stauchte ich die Mädchen zusammen, weil sie mein Zimmer nicht gemacht hatten. Da sich die Siesta durch die immerhin gute Reinigung des Zimmers verzögerte, war ich etwas verärgert.
Später lief durch die Stände und sah mir das Straßenfest an, hatte aber wenig Lust teilzunehmen. Bevor ich zum Essen ging, traf ich den Pfälzer auf der Straße, den ich am Donnerstag, nach meiner Ankunft, in seine Braustube begleitet hatte. Ich war auf dem Weg zum Abendessen und daher etwas kurz angebunden. Er lud mich erneut in seinen Betrieb ein, wenn ich mit dem Essen fertig wäre. Ich wollte nicht wirklich zusagen, aber ihn auch mit einer Absage brüskieren. Die Entscheidung wurde mir abgenommen, als sich, nachdem ich gegessen hatte, der Seniorchef des Restaurants zu mir an den Tisch setzte und mich in ein interessantes Gespräch verwickelte.
Wir sprachen über die alten Kulturen auf dem Gebiet des heutigen Peru, die Folgen der Eroberung durch die Spanier. Er setzte mir auseinander, daß die Inkas so was, wie die Preußen Perus waren, die den verschiedenen Völkerschaften eine kulturelle, militärische und soziale Klammer gaben, aus denen der heutige Nationalstaat sich heute zusammensetzt. Wegen der Inkas habe ich bei den Peruanern ein stärker ausgeprägtes Nationalgefühl vorgefunden, als in den anderen Länder. Wie immer, kommt man am besten über die Geschichte an heutige Verhältnisse, weil sie die Ursachen für viele der Schwierigkeiten beinhaltet.
Er war von seinen Landsleuten nicht sehr begeistert und bestätigte mir unbewußt viele meiner Beobachtungen über den peruanischen Charakter. Allerdings genügt es nicht, allein die Kolonialherren für die Lage, in der sich die meisten südamerikanischen Staaten befinden, verantwortlich machen. Denn Eigenschaften, wie faul, arbeitsscheu, rücksichtslos, nachlässig und unkultiviert, über die wir uns sofort einig waren, hätten bei den Inkas keinen Platz gehabt. Dabei handelt es sich um Reaktionen und Folgen, die auf die direkte Kolonialherrschaft, später die wirtschaftliche Abhängigkeit, in die sie Engländer zum Teil mit Waffengewalt gezwungen haben und der Übernahme dieses Systems durch die USA, die das heutige Leben bestimmt, zurückzuführen sind.