Tagebuch
57. Huancayo II
Das Museum der Salesianer
Die miese Qualität des Alkohols und die Tatsache, daß es spät geworden war, sorgten dafür, daß ich den Vormittag fast komplett verlor. Nach dem Frühstück lief ich eine Weile durch die Stadt und besuchte La Merced. Die eher kärgliche Einrichtung der Kapelle kann leicht dazu führen, daß man den Ort unterschätzt. Hier wurde 1821 die erste Unabhängigkeitserklärung im Schutz der Truppen von José de San Martin unterzeichnet. Bis zum Mittagessen lief ich weiter ziellos durch die Stadt und hielt anschließend Siesta.
Endlich schien mir der Augenblick günstig, das Museum der Salesianer zu besuchen. Die Salesianer sind ursprünglich ein Orden zur Kontemplation, den Franz von Sales und Franziska von Chantal 1610 in Frankreich gegründet hatten. Im dritten Viertel des Neunzehnten Jahrhunderts rief Giovanni Bosco in Turin die Gesellschaft des heiligen Franz von Sales ins Leben, deren Ziel es war, die Ausbildung Jugendlicher und junger Erwachsener, die auf der Straße leben, zu fördern. In Südamerika unterstützte sie hauptsächlich die Missionierung.
Das Museum befindet sich einem ummauerten Schulkomplex. Vorbei am Pförtner und an einigen Schülern, die gerade eine Hofpause hatten, gelangte ich ins Innere und fragte mich zum Museum durch. Dabei konnte ich einen Blick in den Präparationsraum werfen und einige Stücke, die eigentlich derzeit nicht Teil der Ausstellung waren, einsehen. So lange jedenfalls, bis der Wärter kam und wissen wollte, was ich hier täte. Nachdem ich bezahlt hatte, führte er mich in die Museumsräume, wo sich bereits eine Schulklasse befand, von der ich vermutete, daß sie eher von einer anderen Schule hierhergekommen war.
Eingeteilt in die drei klimatischen Hauptzonen, Küste, Bergland und Urwald, sah ich große Vitrinen mit gemaltem Hintergrund in denen ausgestopfte Tiere mehr oder weniger kunstvoll um Steine und künstliche Vegetation gruppiert waren. Die Insektensammlung war recht ansehnlich. In einem gesonderten Raum befanden sich neben einer numismatischen und einer philatelistischen Sammlung, die beide einigermaßen als weltweit bezeichnet werden konnten, präinkaische und inkaische Artefakte und Knochen. Nach den speziellen Frühgeschichts- und Geschichtsmuseen, die ich vorher schon gesehen hatte, konnte mich die kleine Sammlung allerdings nicht mehr begeistern. Der Mineralien- und Fossilienschau widmete ich etwas mehr Zeit. Leider waren viele, der teilweise recht ansehnlichen Stücke nicht aus Peru und einiges fand ich falsch beschriftet. Der Wärter, der wieder aufgetaucht war, um das Museum zu schließen, erklärte mir, daß der Pater, der das Museum gegründet hatte, kein Geologe war, nicht immer adäquate Bestimmungsbücher vorliegen hatte und viele der Stücke aus seiner italienischen Heimat mitgebracht habe. Außerdem wäre nie ein Fachwissenschaftler mit der Ordnung der Sammlung beauftragt worden. Trotz der Mängel fand ich, daß das Museum den Besuch wert gewesen war.
Alvino und seine Hobbies
Im Hotel traf ich Eduardo, mit dem ich mich verabrdet hatte, nicht an, aber dafür tauchte Alvino auf. Wir sind Essen gegangen. Schon auf dem Weg zum Restaurant hatte er begonnen, mir die Ohren vollzuheulen, daß er Geld brauche: Die "Stimme des Säers" im Radio kostete Geld, das er nicht zu haben vorgab und er hatte es versäumt, rechtzeitig für genügend Werbeeinnahmen zu sorgen. Er wisse ja auch nicht, wie. Ich sagte ihm ohne Umschweife, daß er von mir kein Geld zu erwarten habe, aber, auch wenn dies nicht zu meinen starken Seiten gehört, ich würde ihm helfen Ideen zu entwickeln, die ihm Geld einbringen könnten. Daß ihm die Arbeit im Sender viel bedeutete, war mir schon vorher klar gewesen. Nun schien er noch draufzusatteln, um mich als Sponsor zu gewinnen. Ich brauchte einige Zeit und einige Ideen lang, bis er sich wieder beruhigt hatte.
Nachdem wir das Restaurant verlassen hatten, führte er mich zum Haus seiner Verlobten. Da er sich offenbar nicht traute, selbst nach ihr zu fragen, schickte er ein Mädchen, das er auf der Straße getroffen hatte, mit der Nachricht, er sei vor dem Haus, zu ihr. Sie kam – und sie begannen zu streiten. Ich hielt mich ein paar Meter entfernt, um die beiden nicht zu stören. Schließlich stellte mich Alvino vor und erläuterte den Grund für ihre Meinungsverschiedenheit. Sie sollte in eine andere Stadt gehen, um ihr Medizinstudium fortzusetzen, was sie aber nicht wollte. Alvino fragte, was ich dazu meinte. Ich sagte natürlich, daß Bildung immer wünschenswert sei, gerade hier wo es offenbar eine Unterversorgung an Akademikern, speziell Ärzten, gäbe. Sie hatte aber offenbar Angst wegzuziehen und wollte ihren Freundeskreis nicht verlieren. Da an diesem Abend keine Lösung zu erwarten war, haben wir uns schließlich verabschiedet. Alvino, den das Thema bewegte, fragte mich erneut nach meiner Meinung. Mir erschien der Bildungsunterschied für eine dauerhafte Beziehung, dazu noch auf Distanz, zu groß, so daß ich ihm empfahl, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Gegen seine Gewohnheit kommentierte er den Vorschlag nicht. Bald darauf trennten sich unsere Wege und ich ging zum Hotel zurück. Eduardo hatte sich nicht gemeldet und so zog ich mich auf mein Zimmer zurück.
Das physikalische Institut
Gegen halb neun war ich zur Plaza de Constitución gelaufen, um einen Bus nach Chupaca zu suchen. Durch Herumfragen fand ich heraus, daß der Bus südwestlich, ein paar Straßen weiter vorbeikam. Diesmal war es ein kleiner Reisebus, der den Schriftzug Chupaca trug. Etwa eine Dreiviertelstunde fuhr ich angespannt durch das hier sehr breite Tal des Río Mantaro, bis ich an der Plaza de Armas in Chupaca ankam. Wie sich herausstellte, war ich zu weit gefahren. Ich lief von den Hügel, auf dem der Ort liegt, zurück zur Hauptstraße, wo ich nach kurzer Wartezeit ein collectivo, das ist ein Sammeltaxi, besteigen konnte, das mich die letzten Kilometer bis zum Eingang des Geophysikalischen Instituts brachte. Der Fahrer, der zwar die Strecke kannte, mußte aber selbst ein wenig nach dem genauen Eingang suchen, weil offenbar niemand sonst hier aussteigt. Außerdem berichtete er mir von Nebenstellen entlang der Strecke.
Schließlich stand ich vor dem Wachmann, der, wie bei solchen Gelegenheiten üblich, den Personalausweis hinterlegte, während ich mit dem herbeigerufenen Instrumentenwart der Meteorologen über den betonierten Fußweg zur ersten Station der Anlage lief, die aus mehreren verstreuten Barracken in einem Wiesengelände besteht. Er erklärte mir die Wettermeßstation außerhalb des Gebäudes und wir gingen anschließend in den Auswerteraum, in dem an einem Computer die Meßergebnisse sichtbar gemacht werden sollten. Nur, daß der Mann leider das Programm nicht ausreichend bedienen konnte. Also sah ich mir selbst die Menüpunkte an und empfahl den Export in die Gates’sche Tabellenkalkulation. Dabei traten jedoch ebenfalls Schwierigkeiten auf.
In diesem Moment tauchte glücklicherweise der Meteorologe auf, der sein Programm kannte, so daß ich die Auswertungskurven der Meßdaten doch noch zu sehen bekam. Allerdings entdeckte ich sofort den Bock in den Daten: beim Wind in zehn Metern Höhe schien die Richtung entgegengesetzt zu der in drei Metern Höhe zu sein. Daß zwischen dem Wind in Bodennähe und dem Wind in größerer Höhe ein Winkelunterschied ist, stand für mich schon vorher fest, weil der Wind am Boden durch Geländeunebenheiten und Vegetation abgelenkt wird. Jarroyo, der Meteorologe, schwankte zwischen Bewunderung für mich und Scham über die um hundertachtzig Grad falschen Werte. Er erklärte es mir mit einem Kalibrierungsfehler.
Er berichtete von der Auswertung der Daten, die in Lima erfolgte, während er hier nur lokal das Wettergeschehen interpretieren konnte. Mit dem Hinweis, daß Geologen sich auch mit Paläoklimatologie beschäftigen müssen, tischte ich ihm meine Theorie über den scheinbaren Winter im Sommer der Südhalbkugel auf. Er bestätigte mir sofort meine Gedankengänge und war womöglich noch beeindruckter, als zuvor. Wir unterhielten uns noch ein wenig über das Wetter in Peru und speziell im Mantarotal, bevor er mich zu meiner nächsten Station brachte, nicht ihn ohne jedoch unsere e-Mail-Adressen auszutauschen.
Domingo, der die Geomagnetikmeßstelle betreibt, zeigte mir seine Meßgeräte und erklärte mir die Auswertungsanlagen. Gegen den echten Physiker konnte ich mit meinen ebenfalls im Studium erworbenen Kenntnissen jedoch allenfalls behaupten, dafür war ihm die geologische Bewertung seiner Meßergebnisse eher fremd. Ich sah eine recht neue Anlage zur Messung des irdischen Magnetfelds, die ihm von japanischen Forschern zur Verfügung gestellt worden war, unter anderem mit einem beeindruckend kleinen Laptop. Die Auswertungssoftware kam, weil hier noch weniger Geld für Forschung vorhanden ist, als in Deutschland, vom GeoForschungsZentrum Potsdam. Als ich dort Festkörperphysik zur Erdbebenerkennung betrieben hatte, war ich jedoch nicht mit der Außenstelle in Nimegk, die sich mit Magnetik befaßt, in Kontakt gekommen. Als er das hörte legte er seine kühle Zurückhaltung etwas ab.
Die Station hier, so bewies er mir anhand der Daten der anderen Meßstationen, mit denen er Daten austauschte – es gibt nur wenige Dutzend Meßstationen weltweit –, zeigte wegen der Nähe zum magnetischen Äquator immer signifikante Abweichungen zu den anderen Orten. Insofern ist diese Meßstelle unverzichtbar, wie der halbjährliche Bericht, der unter japanischer Leitung entsteht, eindrucksvoll beweist. Domingo erklärte mir, daß sich das Erdmagnetfeld in den Vierziger Jahren gedreht hat und sich nun mit der beachtlichen Geschwindigkeit von einem halben Kilometer im Jahr zurück nach Norden bewegt. Ich hatte vorher schon gewußt, daß das Feld nicht stabil sein kann, weil man die Ausrichtung von magnetischen Mineralkörnern in magmatischen Gesteinen zur Altersbestimmung benutzt, aber eine derart hohe Geschwindigkeit hatte ich nicht erwartet. Zum Vergleich: Kontinentalplatten schaffen im Jahr bestenfalls wenige Zentimeter. In den anderen Räumen zeigte mir Domingo die historischen Meßgeräte, die seit der Gründung durch das Carnegie-Instituts 1922 hier in Betrieb gewesen waren. Eines davon, ein Photometer, wird noch heute zur Hilfsauwertung und bei Pannen eingesetzt. Er berichtete auch von der Arbeit zweier deutscher Geophysiker, die hier Daten gesammelt und ausgewertet hatte. Einen davon erkannte ich als renommierten Professor wieder. Auch Domingo, der zum Schluß fast herzlich wirkte, wollte unbedingt meine e-Mail-Adresse, bevor er mich zur letzten und für mich interessantesten Meßstation führte.
Zu meiner großen Enttäuschung fand ich in der Seismik-Barracke nur einen Techniker, aber keinen Geologen vor. Da dieser aber die ganze Anlage allein betreut, konnte er mir trotzdem auch einige weiterführende Erklärungen geben. Wir sahen uns die seismischen Karten der Umgebung an, die ich natürlich selbst interpretieren mußte. Weil die Anlage offenbar Mängel hat, befand sich neben dem Sensor und dem Auswertecomputer eine alte mechanische Meßstelle, damit die Daten in jeden Fall genommen werden können. Der Techniker konnte mir von weiteren Auswertestationen berichten und ich mußte feststellen, daß ich Chiclayo bereits die Möglichkeit gehabt hätte, eine Station zu sehen. Seine Chefs in Arequipa würde ich leider nicht zu sehen bekommen; mit dem Fahrrad war mir der Umweg zu groß.
Offenbar hatte vom Kontinentalen Tiefbohrprogramm der Bundesrepublik in der Oberpfalz gehört und versuchte mich dazu auszuquetschen. Aus nationalem Interesse beschönigte ich den Flop, der er in meinen Augen ist. Die Diskrepanz zu dem, was man vorher hatte erreichen wollen und dem, was hinterher dabei rauskam ist mir zu groß. Immerhin fanden wir einige offizielle Internetseiten, die ich ihm, auch wenn es meist Literaturhinweise und Vermarktung war, teilweise übersetzte. Schließlich erfragte ich einige Tipps zu meinem Nachmittagsprogramm und nach einem Restaurant in Chupaca, wohin ich zurückkehren mußte.
Die Ruinen von Arwaturo
Vor dem Eingang des Instituts traf ich, nachdem ich mich von dem Wächter verabschiedet hatte, auf eine Bauernfamilie, die sich mit ihrem Feldertrag in den vollen Kleinbus drängte, der nach Chupaca fuhr. Hier fand ich ein Restaurant, um mich zu stärken. Anschließend ging ich zum Waffenplatz, wo ich den Kleinbus nach Ahuac fand. Die Fahrt ging durch eine sehr schöne, etwas hügelige, landwirtschaftlich genutzte Landschaft, zum Teil auf Alleen, in den kleinen Ort auf einen der Vorhügel des Gebirges um den Mantaro. An der Endhaltestelle an der Plaza de Armas, verließ ich den Bus, um einen Weg nach Arwaturo zu finden. Ein Sammeltaxifahrer kam auf mich zu und bot mir an, mich zu fahren. Sein Preis erschien mir aber zu hoch. Wenn ich der einzige Fahrgast sei, müsse ich das ganze Fahrzeug selbst bezahlen. Umgerechnet drei Mark fünfzig war zwar nicht teuer, aber ich ging trotzdem zu Fuß den Weg, den mir der Taxifahrer beschrieben hatte.
Eigentlich hatte ich mir vorher das Museum an der Plaza de Armas ansehen wollen, aber es war noch Mittagspause. Nach gut einer halben Stunde durch die schöne Landschaft, in der arme Bauern ihr mageres Dasein fristen, erreichte ich die Schranke unweit des Sees Ñahuinpuquino, an der das Taxi sowieso geendet hätte. An der Sandgrube daneben hielten sich einige Männer auf, die aber nur dumme Sprüche draufhatten, so daß ich sie ignorierte und meinen Weg, der ein kleiner Trampelpfad neben der ungeteerten Piste war, fortsetzte. Eine weitere gute halbe Stunde Marsch entlang dem Bergrücken, auf dem sich die Huanca-Ruinen befanden, die mein Ziel waren. Zwischen den Feldern, selten auf Einheimische, manchmal mit Esel, treffend, sah ich auf das malerische Mantarotal hinab, während ich auf etwa dreitausendsiebenhundert Meter Höhe lief.
Schließlich fand ich aus grob behauenen Steinen gemauerte, halbzerfallene Einzimmergebäude. Die etwa dreißig aus dem dreizehnten bis fünfzehnten Jahrhundert stammenden Hütten standen wie Reihenhäuser unmittelbar nebeneinander und waren durch eine Steinmauer vor Angriffen geschützt. Der Quechua-Name Arwaturo bedeutet verbrannte Knochen, wie eine kleine, wenig informative Hinweistafel mitteilt. Ich kletterte eine Weile durch die Ruinen, ohne jedoch etwas spektakuläres zu finden.
Auf dem Rückweg standen an der Schranke weniger Männer, die mich diesmal höflich ansprachen. Sie erzählten mir von dem Tempelkomplex, der eine Hügelkuppe weiter zu finden sei. Wenn ich zurückkehrte, solle ich unbedingt einen Führer mitnehmen, um mir diese Ruinen ebenfalls anzusehen. In Ahuac im Museum sah ich Fotos der beiden Ruinenstätten und kam zu der Ansicht, nichts Wichtiges verpaßt zu haben. Einige Artefakte und wenig Erklärungen rechtfertigten den freien Eintritt. Eine kleine, erwünschte, Spende zum Ausbau des Museums erschien mir aber angemessen.
Eine Stunde später war ich, auf dem selben Weg, mit Umsteigen in Chupaca, zurück in Huancayo. Gerade rechtzeitig zum Abendessen. Mir war es recht, weder Alvino noch Eduardo zu treffen, so daß ich mich zu meinen gewohnten Arbeiten auf mein Zimmer begeben konnte.
Letzte Programmpunkte in der Stadt
Bereits beim Aufstehen fühlte ich die beginnende Erkältung. Nach dem Frühstück verlor ich Zeit beim Suchen eines Busses nach Choronga, wo ich mir die Kirche ansehen wollte. In den von Straßenhändlern überflutete Straßen fuhren immer viele Kleinbusse, so daß ich den gesuchten Bus beim Suchen einer Haltestelle an mir vorbei fahren lassen mußte, ohne einsteigen zu können. Ich wartete noch eine Weile ohne Hoffnung an einer Stelle, an der das Einsteigen möglich war, bis ich die Geduld verlor und ins Hotel zurückkehrte. Der Besitzer, der gerade da war, empfahl mir, einen modernen Franziskanerkonvent und den Liebespark Peñalosa zu besichtigen.
Auf dem Stadtplan hatte ich gesehen, daß ich etwa zwei Kilometer nach Westen laufen mußte, um das Kloster Pichcus zu erreichen. Auf dem Weg hielt plötzlich ein hupender Wagen neben mir. Etwas überrascht sah ich hinüber, weil ich üblicherweise niemanden kannte. Eduardo, der auf dem Beifahrersitz saß, begrüßte mich überschwenglich und versprach mich wiederzutreffen. Die Zweifel, die ich bereits in diesem Moment hatte, stellten sich als völlig berechtigt heraus.
Am Eingang des Konvents fragte ich den Pförtner, ob ich mir das Areal ansehen dürfe. Nach einigem Kompetenzgerangel ließ man mich hinein, obwohl der Pater, der üblicherweise Besucher persönlich herumführte, gerade außer Haus war. Dadurch, daß ich in eigener Regie durch die ausgedehnte Anlage gehen konnte, blieben mir einige Gebäude verschlossen, aber dafür gewann ich einen besseren Eindruck vom Leben der Menschen hier. Ich lief durch einen Kreuzgang aus Beton, was für mich etwas überraschend war, kannte ich solche Konstruktionen doch nur von viel älteren Gebäuden, als diesem Betonklotz aus den Sechzigern.
Hinter dem Neubau erstreckten sich alte Lehmziegelbauten aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, die ich als Wohnhäuser für Laien, Vorratslager und Kapelle identifizieren konnte. Während ich mich zwischen den alten und neuen Konstruktionen bewegte, sprach man mich aus der Klosterküche an, was ich hier wolle. Ich sagte, daß ich offiziell Einlaß erhalten habe und mich hier umsähe. Als kurz darauf zwei recht große Hunde ihre Wachfunktion wahrnahmen und sich auf mich stürzen wollten, war es die Köchin, die sie zurückpfiff. Ich war stehengeblieben und ging nun an den beruhigten Hunden vorbei auf eine Wiese, auf der einige der Zöglinge der integrierten Schule Fußball spielten.
Der letzte Punkt des etwa eine Dreiviertelstunde dauernden Rundgangs war die moderne Betonkirche. Der Haupteingang war zwar abgeschlossen, aber über einen Seiteneingang gelangte ich in den Baustellenbereich der Kirche, der vom Altarraum aus kaum zu sehen war. Über eine Treppe gelangte ich auf eine Art Empore, von der aus ich halbwegs das Innere der Kirche unter mir sehen konnte. War zwar ganz nett, aber ich sah nichts, was mich besonders beeindruckte. Nach dem ich mich beim Pförtner verabschiedet hatte, nahm ich mir ein Taxi zu dem Park.
Der an einem Hügel gelegene Park, der auch Parque de los Enamorados, der Liebenden genannt wird, machte seinem Namen alle Ehre: Zwischen den gepflasterten Wegen und Wasserkanälen standen auf einem gepflegten Rasen unter Pinien Putten und Eroten. Ich fand alles ziemlich verspielt und mindestens hart an der Grenze zum Kitsch. Genau das richtige für romantische Verblendete, denn Liebe macht ja bekanntlich blind. Immerhin war wenigstens am späten Vormittag wenig los, aber ich bildete mir schon ein, als Single hier aufgefallen zu sein. Ich ging weiter, an einer Madonna vorbei, an der man sich wohl den Segen für die Verbindung holte und sah eine etwa drei Meter tiefe Klamm, die den Park begrenzte. Hier stand ein hellbrauner, stellenweise rostrot verwitterter, stark deformierter, feinkörniger Rhyolith an, der laut den Angaben meiner geologischen Literatur ziemlich alt sein sollte, jungpaläozoisch. Darauf, den Hügel hinter dem Park wegen des Ausblicks über die Stadt zu besteigen verzichtete ich, da mir der Sinn nach einem Bier und einem Mittagessen stand.
Mit einem Taxi fuhr ich in die Stadtmitte zurück, wo ich mich am Mercado Modelo, dem Mustermarkt absetzen ließ, weil ich die lokale Variante des Spanferkels probieren wollte. Der Gestank der Markthalle und die nicht sehr hygienischen Verhältnisse schreckten mich aber ab. Also lief ich in die Nähe des Hotels und aß dort konventionell. Huancayer Kartoffeln sind eine Vorspeise aus gekochten Kartoffeln, die leider meist kalt sind, da nur einmal am Tag gekocht wird. Die Sahnesoße mit Kräutern, Olive und gekochtem Ei darüber wird immer kalt serviert.
Die Siesta dauerte länger, als üblich und die Erkältung, die ich schon am Vormittag gespürt hatte, brach weiter durch. Mein Hausmittel für diesen Fall ist eigentlich warmes Bier und schwitzen, aber von dem Bier in dem, wie in Südamerika üblich, Reis, Mais und andere, nicht dem Reinheitsgebot entsprechende Substanzen enthalten sind, versprach ich mir keine heilende Wirkung. Mit zunehmenden Kopfschmerzen ging ich ins Internet, um den nächsten Bericht abzuschicken. Es ging mir erst besser, als ich ein gutes Restaurant gefunden hatte, in dem ich zum Essen einige heiße Rums getrunken hatte. Sowohl Essen, als auch die Gewürze im Rum waren sehr gut, nur war mir den Laden, Antojo, der ab 21 Uhr Folklore live als Programm bietet, zu teuer.
Zurück im Hotel erwartete mich Alvino. Wir sind spazierengegangen und er hat wieder versucht, mich anzuschnorren. Immer mit der Begründung, er brauche das Geld für den Radiosender. Ich hatte zwei Tage vorher zufällig seinen Kontoauszug gesehen, den er als Schmierzettel benutzt hatte. So arm war er nicht; aber natürlich auch nicht reich. Ich machte aus meiner Enttäuschung über sein geldgieriges Verhalten keinen Hehl, worauf er beleidigt war und bestritt, daß es von Anfang an sein Ziel war, mich auszunehmen. Unser Vertrauensverhältnis war daraufhin zerstört. Immerhin reichten wir uns zum Abschied die Hände.
Vergrippt
Was sich bereits am Vortag angekündigt hatte, wurde nun zur bösen Gewißheit: ich hatte mir eine schwere Erkältung eingefangen. Ein Verlassen der Stadt war unter diesen Umständen vorerst nicht möglich. Nachdem ich einen Zitronentee getrunken hatte, beschloß ich, in die Sauna zu gehen, deren Hinweisschild ich unweit des Hotels gefunden hatte. Während der gut drei Stunden, in denen ich zwischen den Sauna, Dampfbad, Duschen, Ruheraum und einem warmen Kleinschwimmbecken hin und herpendelte, traf ich einen Manager aus Cusco, der sich als angenehmer Gesprächspartner herausstellte. Sein Schwager allerdings, der ihn begleitete, war ein großer Schwätzer. Er behauptete, mit den Inkaherrschern verwandt zu sein. Seine Ergüsse, denen ich zwar einige Informationen über den weiteren Weg und über Cuzco entnehmen konnte, ermüdeten mich aber bald.
Vor dem Mittagessen beschaffte ich mir einige Medikamente aus der Apotheke, denn gegen Erkältung helfen die Cocablätter kaum; trotz ihres hohen Vitamin C Gehalts. Wie bei vorangegengen Gelegenheiten, wollte man mir auch hier, in Peru, einzelne Tabletten verkaufen. Ich zog es vor Originalpackungen zu nehmen. Zur einer guten Kalbfleischbrühe mit Reis und Kartoffeln, einigen Gemüsen und einem Stück Fleisch, meist am Knochen, die hier standardmäßig verkauft wird, trank ich erneut einen Zitronentee.
Nach der Siesta beschäftigte ich mich mit der Planung der weiteren Strecke. Zwischenzeitlich ging ich Wasser kaufen und mußte mich über einen Händler ärgern, der den Ausländerzuschlag auf gut fünfzig Prozent erhöhen wollte. Ich bin in eine andere tienda, wo der Preis vernünftig war. Zum Abendessen hatte ich ein gutes Restaurant gefunden, wo der heiße Rum mit Zimt, Honig und Zitrone recht gut war. Das Essen war ebenfalls ziemlich gut, wobei das EL Inca billiger war, als der teure Schuppen vom Abend zuvor. Dabei schrieb ich einige Berichte für den South American Explorer Club.
Obwohl ich mich immer noch nicht übermäßig gut fühlte, dachte ich daran, die Stadt zu verlassen. Da ich an der Plaza de Constitución einen Automaten für Kreditkarten gefunden hatte, glaubte ich, mir noch vor der Abreise etwas Geld beschaffen zu können. Als es nicht funktionierte, dachte ich im ersten Augenblick an meine Kreditkarte, aber die hatte ja vorher gut funktioniert. Ich ging zur nächsten Filiale der Banco Wiese, die den Geldautomat aufgestellt hatte. Hier erklärte man mir, daß der Automat nur für nationale Kreditkarten geeignet sei. Ich nutzte die Gelegenheit, etwas Geld mitzunehmen. Inzwischen war es aber zu spät geworden, um noch loszufahren und so beschloß ich, nochmals in die Sauna zu gehen, weil die Erkältung trotz Sauna und Medikamenten nicht ganz vergangen war.
Nach dem Essen, diesmal eine grüne Kräutergemüsesuppe, die mir sehr gut geschmeckt hat, mit heißem Zitronentee, geruht. Da ich nicht den ganzen Nachmittag auf dem Zimmer verbringen wollte, die Stadt aber schon kannte, beschloß ich, im Internet deutsche Zeitungen zu lesen. Noch ein kleiner Spaziergang, bevor ich meine Unterlagen holte, um im selben Restaurant wie am Vortag meine Berichte für den Club zu schreiben und zu Abend zu essen.
Sonntagsmarkt
Offenbar war die Erkältung immer noch nicht ganz abgeklungen, als ich morgens aufstand. So gab ich ein letztes Mal die Wäsche in Auftrag und ging Frühstücken. Die Bäckerei, Panadería Koki an der nächsten Ecke verdient wegen der hohen Qualität ihrer eigenen Produkte und den teilweise importierten Delikatessen die Erwähnung, auch, wenn mir die arrogante Selektion der Kundschaft mehrfach aufgefallen war. Zumeist aß ich empanadas und Süßgebäck zum Tee mit Limonen, weil ich selbst in diesem Spezialitätenladen keine Frischmilch bekam. Bei den empanadas handelt es sich um Teigtaschen, die mit Huhn, Rind, oder Käse gefüllt sind und üblicherweise gekochtes Ei und Oliven enthalten. Das Gebäck fand ich oft mit einer Karamelkrem gefüllt. Nur, daß fünf Mark für ein Frühstück zu teuer sind, wenn ich bereits für drei Mark ein zweigängiges Mittagessen kriege.
Unter anderem, weil ich sicher sein wollte, am nächsten Tag die Stadt endgültig zu verlassen, nahm ich ein Taxi zum Bahnhof, um mich über die Züge nach Huancavelica zu informieren. Wenn der Sonderzug aus Lima nicht verkehrt, ist dies die einzige Zugverbindung. Bis zum Ende wollte ich sowieso nicht Zug fahren, weil meine Route abbog. Außerdem waren die Übernachtungsmöglichkeiten auf dem ersten Teil der Strecke ziemlich dürftig. Ich fand heraus, daß um halb sieben morgens ein Zug fuhr. Den wollte ich nehmen, nachdem ich mich davon überzeugt hatte, daß mein Fahrrad keine Schwierigkeiten bereiten würde.
Weil der sonntägliche Markt in der Gegend berühmt war, lief ich vom Bahnhof zurück, westlich des Zentrums, wo er auf etwa zwei Kilometern Länge stattfand. Vier Reihen Stände mit zwei Laufgängen dazwischen blockierten die Straße vollständig. Es war voll, aber nicht gedrängt, so daß ich einigermaßen flott durch die Reihen der Verkaufsstände gehen konnte. Gut eine Stunde lang sah ich mir die Waren an, die hier angeboten wurden. Einheimische Produkte neben Tandüberproduktionen aus den Ländern der Ersten Welt. Ich war wenig begeistert, auch wenn ich fast nichts sah, was es nicht hier zu kaufen gab. Schlimm, aber bezeichnend fand ich, daß es nur drei Bücherstände gab; die Auswahl an alten, aber keineswegs antiquarischen, Büchern war auch noch ziemlich beschränkt. Immer wieder fand ich Essenstände zwischengeschaltet.
Auf dem Rückweg wurde ich von einer Parade aufgehalten. Die Trachtenvereine der Umgebung marschierten alljährlich durch die Stadtmitte. Die Trachten waren aus der Kolonialzeit, denn die Spanier hatten nach der Eroberung für alle Indianer eine Kleiderordnung festgelegt. Deswegen sind, außer bei einigen später entdeckten Stämmen alle Kleider spanisch und nicht indianisch. Alle Gruppen trugen ein Schild oder eine Fahne vor sich her, auf dem Name und Herkunft, üblicherweise aus dem Mantarotal, standen. Viele der Gruppen hatten Musikanten in ihren Reihen, die meist Saxophon, eine Art Harfe, Geigen und Gitarren waren die hauptsächlichen Instrumente. Dazwischen tanzten Mädchen, was mich an die Funkenmariechen im deutschen Fasching erinnerte.
Nach Mittagessen und Siesta machte ich einen Spaziergang und blieb in einer tienda hängen, in der ich vorher noch nicht gewesen war. Anna Melba, die Betreiberin verwickelte mich in ein Gespräch, wohl wie immer in der Hoffnung, von mir aus Peru und der Armut geführt zu werden. Wir kamen auf die politischen Verhältnisse in Peru zu sprechen, weil der Wahlkampf tobte. Nach der Geschichte mit seinem Sicherheitsberater Montesinos und seinen unnötig angeschafften Kampfflugzeugen, war Fujimori, der zu Beginn seiner Amtszeit wohl viel für die wirtschaftliche Entwicklung Perus getan hatte, mit seinen ergaunerten Millionen, US-Dollar, wohlgemerkt, nach Japan geflohen und ein Nachfolger mußte her. Hinzu kam der Vorwurf, daß er eigentlich nie hätte Präsident werden dürfen, weil er angeblich in Japan geboren war.
Da jeder der Kandidaten um jeden Preis Erfolg haben wollte, fielen bei der Diffamierung seiner Gegner jegliche Schranken. Alan Garcia, der sich hochtrabend Alan Peru nannte, war schon mal Präsident gewesen und schreckte nicht davor zurück, seinem Gegner „Pachacutec“ Toledo wilde Orgien während seiner Studentenzeit in den USA vorzuwerfen. Aber offenbar nicht nur Anna Melba erkannte dies als Propaganda, denn in den Umfragen lag Toledo vor Garcia.
Wie schon an den beiden vorangegengen Tagen schrieb ich beim Abendessen im El Inca meine Berichte für die South American Explorers. Bis Lima hatte ich es bereits geschafft. Ich kehrte früh auf mein Hotelzimmer zurück, um die Vorbereitungen für die Abfahrt am nächsten Tag zu treffen.