Stefan K. Beck, Privatgelehrter und Projektemacher

Tagebuch

56. Huancayo I

Zwischen Jauja und Huancayo

Ich schaffte es, einigermaßen früh aufzustehen und mich reisefertig zu machen. Beim Frühstück sollte ich die letzte Nacht bezahlen. Daher fragte ich nach Enrique, dem ich am Vortag für seine Einkaufsaktion genau den Betrag geliehen hatte, den ich nun zum Bezahlen brauchte. Die Wirtin sagte mir, daß sie sich das Geld von ihm selbst holen würde, weil er natürlich noch schlief.

Nach gut einer Stunde erreichte ich das etwas abseits gelegene Franziskanerkloster Santa Rosa de Ocopa aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert, in der Nähe des Ortes Concepción. Der Umweg, zumal es nur etwa acht Kilometer waren, hatte sich gelohnt, das sah ich bereits von außen. Nachdem ich geklärt hatte, daß mein Fahrrad eingeschlossen und bewacht sein würde, nahm ich an einer Führung teil.

Die Führung verlief mir wieder zu schnell, denn es gab eine ganze Menge zu sehen. Zur Ausbildung der Mönche für die Missionierung im Urwald war eine große Sammlung an ausgestopften Tieren angelegt worden und eine begeisternde Bibliothek mit über zwanzigtausend Bänden. Mir fiel allerdings auf, daß es, abgesehen von einer Nutzholzsammlung, keine Pflanzen gab, über die die Mönche mindestens genausogut informiert sein mußten, wie über die Fauna. Auch einige Mineralien und alte Karten waren in der Naturkundeabteilung ausgestellt. Zusätzlich zu der Pinakothek mit Malern der Cusqueñer Schule hingen auf den Fluren des weitläufigen Klosters, das das erste franziskanische Perus ist, eine Reihe Gemälde aus verschiedenen Epochen, überwiegend mit religiösen Motiven.

Eigentlich hatte ich vorgehabt, noch einige Kilometer weiter von der Straße abzuweichen, um in Ingenio bei den berühmten Forellenzuchtanlagen Mittag zu machen, aber das Wetter erschien mir zu unsicher, so daß ich zur Landstraße am Río Mantaro zurückkehrte und auf Huancayo zuhielt. Die Spanier hatten die Fische mitgebracht und im Hochland hatte ich immer sehr gute Erfahrungen mit den Forellen gemacht. Und der Preis ist, verglichen mit Deutschland, geradezu lächerlich.

Schwierige Unterkunftssuche

Nach einer ereignislosen Fahrt gegen den Wind, der offenbar im ganzen Mantarotal, soweit ich es bis zu diesem Zeitpunkt kennegelernt hatte, blies, erreichte ich Huancayo. Immerhin hatte ich gegenüber dem dreitausenddreihundertdreißig Meter hohen Jauja nominell etwa sechzig Höhenmeter verloren. Die Hauptstadt des Departements Junín hat etwa vierhunderttausend Einwohner und ist entsprechend ausgedehnt. Bereits, als ich am Campus der Universität vorbeifuhr, erwartete ich das Zentrum, aber bis dahin waren noch einige Kilometer. Schließlich fand ich die Straße mittels des Stadtplans im Reiseführer, in der sich die Pension befand, die ich mir ausgesucht hatte.

Sie gehörte der Mutter von Lucho Hurtado, der einerseits gefeierter Folklorist und andererseits ein großer Förderer des Fremdenverkehrs und in besonderen des Fahrradtourismus sein sollte. In dem etwas vernachlässigten, aber recht schönen Haus wurde ich mit der Mutter schnell einig, obwohl ich den Preis als ziemlich hoch empfand. Nach dem Begrüßungstee wollte ich mein Fahrrad aufs Zimmer schaffen. Dabei fiel mir die Machete aus der Scheide auf die Holztreppe. Lucho, der inzwischen gekommen war, um bei seiner Mutter Mittag zu essen, kam sofort die Treppe hinauf. Ich müsse das Fahrrad draußen stehen lassen. Ich setzte mich, auf die Machete gestützt, vor ihn auf die Treppe und erklärte ihm, daß ich schon eine ganze Weile unterwegs wäre und ich das Fahrrad immer auf dem Zimmer hatte. Bei ihm nicht, entgegnete er. Daraufhin sattelte ich das Fahrrad und ließ mir mein Geld zurückgeben. Die Mutter versuchte draußen, wo Lucho uns nicht hören konnte, vergeblich vermittelnd auf mich einzuwirken und zum Bleiben zu überreden. Ich dachte aber nicht daran, im Haus eines derart arroganten Menschen zu wohnen, dem sein Erfolg offenbar zu Kopf gestiegen war.

Ich mußte danach eine ganze Weile suchen und kam dabei wohl auch in Bereiche der Stadt, die sicher auch die Touristenpolizei für wenig ratsam gehalten hatte. Schließlich, ganz in der Nähe des Zentrums, fand ich ein Hotel, dessen Ausstattung besser und das obendrein um ein Drittel billiger war, als der Trendtreff von Hurtados Mutter. Mit dem Fahrstuhl brachte ich das Fahrrad und das Gepäck in die ruhigen oberen Stockwerke des recht neuen Hochhauses, richtete mich ein und nahm eine Dusche.

Nach dem Mittagessen neben dem Hotel und der Siesta erkundete ich die Umgebung des Hotels. Ich fand Internetplätze, von denen ich einen nutzte und eine tienda, wo ich meinen Durst löschen konnte. Zufrieden mit dem ersten Überblick zog ich mich nach dem Abendessen auf mein Zimmer zurück, um mich über die Sehenswürdigkeiten Huancayos in meiner Literatur zu informieren.

Der Weber in den Ruinen der Huari

Zum Frühstücken hatte ich eine sehr gute Bäckerei an der nächsten Ecke beim Hotel gefunden. Anschließend lief zur Plaza de Constitución, wie hier die Plaza de Armas heißt. Hier sah ich im Vorbeigehen das in Provinzhauptstädten übliche sonntäglich Ritual des Aufziehens der Fahne durch das Militär. Bei einem Polizisten erkundigte ich mich nach dem Kleinbus, nach Huari, einen Dorf südlich der Stadt. Nach kurzer Wartezeit konnte ich einen Bus besteigen, der mich zu Ruinen von Wari-Wilka brachte. An dieser Schreibweise zeigt sich, daß das "W" in der Quechuasprache durchaus existiert, aber von den Spaniern unterdrückt worden war.

Vor dem Museum, das leider wegen Renovierung geschlossen war, hat mich ein kleiner schmächtiger Einheimischer angesprochen. Alvino, ein dreiundzwanzigjähriger Weber aus Huancayo, erbot sich, mit mir durch die Ruinen zu gehen und die Erklärungen des obligaten Führers, den ich aber für mich allein hatte und damit das Tempo bestimmen konnte, zu vertiefen. Alvino mußte keinen Eintritt bezahlen. Die Huari, die ihre Blütezeit zwischen 600 und 1100 erlebten, waren der militärische Arm der Tiahuanacu-Kultur am Titicaca-See und erweiterten deren Einflußbereich bis zur Nordküste Perus. Neben der Festungsbaukunst, die ich hier zu sehen bekam, bewirtschafteten sie Terassenfelder, bauten ihre Wege zu Straßen aus, bemalten ihre Keramiken, webten Textilien und hatten eine sehr fortschrittliche Metallbearbeitung.

Der Wassertempel, der nach den Sternen und der Sonne ausgerichtet ist, schien mir eher wie eine Festung, denn die Anlage aus dem achten Jahrhundert ist von einer doppelten Außenmauer umgeben. Offenbar wurde hier neben rituellen Waschungen in gemauerten Bädern und Wasserentnahmen an Brunnen, auch astronomische Beobachtungen angestellt. Zwischen den beiden Außenmauern konnte ich die Reste von zweistöckigen Wohnzellen, Räumen für das Wachpersonal, Vorratsräume und einen Kerker, in dem laut Führer Skelette gefunden worden waren, erkennen. Wir kletterten fast eine Stunde durch die teilweise rekonstruierte Anlage und Alvino ergänzte die Erklärungen des Führers.

Religiöse Ekstase

Anschließend liefen wir zum Ortskern und nahmen ein Bier in einer Kneipe. Dabei erklärte mir Alvino, daß er jetzt eigentlich einen Termin hätte und bat mich, ihn zu begleiten. Ich wollte natürlich wissen, wohin er mich zu schleppen wollte, bevor ich zusagte. Ganz in der Nähe am Río Mantaro, fände gleich ein Gottesdienst, ein evangelischer, wie er sagte, unter freiem Himmel statt, bei dem er den Vorsänger machen sollte. Ich willigte schließlich ein, ihn zu begleiten und wir liefen zum Fluß hinunter. Er wollte mich seinen Brüdern und Schwestern, wie er sich ausdrückte, vorstellen. Obwohl ich dies ablehnte, trafen wir bereits einige seiner Bekannten auf dem Weg und ich konnte mich nicht verweigern. Am Ort des Geschehens, einer großen Wiese, die von Bäumen gesäumt war, hielt ich mich am Rand, etwa zwanzig Meter von der Gemeinde entfernt. Damit blieb mir jedenfalls der Pfarrer erspart, den mir Alvino unbedingt vorstellen wollte.

Es begann mit einer Bibellesung, bei der Pfarrer und Gemeinde jeweils einen Vers abwechselnd lasen. Die Gemeinde machte mit, aber die Begeisterung kam erst beim anschließenden Gesang. Wie angekündigt stellte sich Alvino vor die Gemeinde und begann, begleitet von drei Gitarren, einem Akkordeon und einem Saxophon zu singen. Die zunehmend ekstatischer werdende Gemeinde sang den Refrain. Soweit ich den Text verstand, war er eindeutig religiös, aber die Musik kam mir eher wie ein indianischer Regentanz vor. Die Gemeinde tanzte, klatschte und stampfte entsprechend mit den Füßen. Mindestens ein Teil der Gemeinde, vornehmlich die Frauen, versetzte sich regelrecht in Trance und unter ungeordneten Jesus-Rufen endete der Tanz nach einer halben Stunde.

Alvino kam schweißgebadet zu mir und während wir zum Bus nach Huancayo gingen, erklärte er mir, daß er wegen mir nicht so lange, wie sonst gesungen hätte. Er fragte mich nach meiner Meinung, zu dem, was ich gesehen hatte. Ich setzte ihm auseinander, daß ich so etwas noch nie vorher erlebt hätte und Kirchenmusik in Europa wesentlich getragener sei. Ich kann nicht sagen, daß es mir nicht gefallen hätte, aber es war zu anders, als alles, was ich in diesem Zusammenhang kennegelernt hatte, aber auch äußerst interessant und lehrreich. Ich wußte, daß die indigene Bevölkerung schon vor der Conquista sehr religiös gewesen war. Die Missionare hatten also nur die Glaubensrichtung beeinflussen müssen. Mehr war ihnen aber offenbar nicht gelungen. Die alten Sitten und Gebräuche wurden lediglich auf christlich getrimmt und die alten Götter verteufelt. Die Strukturen jedoch, die sich hier seit Jahrtausenden entwickelt hatten, waren unauslöschlich. Diese Überlegungen Alvino mitzuteilen, erschien mir unangebracht, weil ich nicht sicher war, ob er mich richtig verstehen würde. Wie richtig diese Entscheidung war, fand ich am späten Nachmittag heraus, als ich seine elementaren Wissenslücken aufdeckte.

"Sehenswürdigkeiten" in Huancayo

Im Bus fragte ich Alvino, was ich mir in Huancayo noch ansehen könne. Er kam sofort auf den Parque de Identidad Huanca. Ich willigte ein, beschloß, aber vorher, essen zu gehen. Neben dem Park waren einige Restaurants, die, weil Sonntag war, den traditionellen Pachamanca anboten. Dabei handelt es sich um an großen Feuern vor den Restaurants gegrilltes Lamm- und Kalbfleisch mit Kartoffeln, Bohnen, Karotten und humitas, die in der Erde gegart worden waren. Auch wenn ich mir gewünscht hätte, daß das Gemüse besser geputzt gewesen wäre, war ich durchaus überzeugt und wunderte mich, daß es neben einen Vergnügungspark in einer Provinzhauptstadt derart preiswert war. Ich zahlte Alvino nur ein Getränk, weil er keinen Hunger hatte, nachdem ich ihm gesagt hatte, daß ich ihn nicht einladen würde, da ich ihn nicht dem Verdacht aussetzten wolle, er begleite mich nur, damit er schnorren könne.

Sonntags erwies sich als äußerst ungünstig, weil viele Einheimische mit ihren Kindern das sonnige Wetter genutzt hatten, um in den Park zu gehen. Wir schritten über die Kieswege durch eine gepflegte Parklandschaft mit einheimischer Flora und einigen kitschigen Betonbauten, die bestenfalls im übertragenen Sinn mit den Huanca zu tun hatten. Alvino zeigte mir, neben dem Nationalbaum, ein kleines Häuschen, in dem sich Frischvermählte in der Hochzeitsnacht einmieten. Ich hatte jedoch bald genug von dem Kitsch und den Menschenmassen.

Mit dem Bus fuhren wir zum Cerro de la Libertad. Da es sich bei dem Freiheutshügel um einen reinen Vergnügungspark mit Fahrgeschäften, wie Karussell und Autoskooter handelte, drängte ich auf schnelles Vorbeilaufen.

Zurück in die Stadt

Weil sich Torre Torre in der Nähe befindet, war die Busfahrt nicht verschwendet. Bei diesen Türmen handelt es sich um Gips, auf deren Spitzen ein sandig-kiesiges Konglomerat liegt, das die Verwitterung aufgehalten hat. Ein ganzes Bachtal voller Türme und Türmchen, das mich sofort an die Bilder vom Bryce-Cañon erinnert hat. Ich konnte natürlich nicht an mich halten und habe an einigen Stellen das Gestein untersucht.

Während wir das Bachtal hinab zur Stadt liefen, erklärte mir Alvino, daß dieses Tal von Einheimischen, denen das Geld für ein Hotel fehlt, zu Liebesspielen genutzt wird. In der Tat sah ich einige Paare, die sich ein ruhiges Plätzchen suchten. Am Talausgang befindet sich ein befestigtes Lehmziegelhaus aus der Kolonialzeit. Wenn hier nicht Gips abgebaut worden war, wovon ich keine Spuren gesehen hatte, diente das Haus als Wachstube, denn daß der Ort den Ureinwohnern heilig war, bestätigte mir Alvino. Die Indianer sollten offenbar daran gehindert werden, ihre alten Götter zu verehren.

Wir liefen einige Kilometer zurück ins Zentrum von Huancayo, während es langsam zu dunkeln begann. Das Gespräch mit Alvino fand ich stellenweise bestürzend. Selbst, wenn wir hier nicht an der Küste waren, so hätte er doch den einzigen peruanischen Hund, den die Eroberer nicht mitgebracht haben, kennen sollen. Genau, wie die Forelle, die er für einheimisch hielt. Für verzeihlicher erachtete ich, daß er nicht wußte, daß neunzig Prozent der Ureinwohner Südamerikas in den ersten hundert Jahren durch die Spanier, beziehungsweise die Portugiesen, ausgerottet worden waren. Weniger in Schlachten, als vielmehr durch Krankheiten und vor allem Zwangsarbeit. Die Kolonialherren konnten natürlich kein Interesse an der Verbreitung solcher Daten gehabt haben und, um des Friedens willen, hatte man wohl auch später darauf verzichtet.

In der Stadt habe ich ihn schließlich doch zum Essen eingeladen. Er zeigte mir ein gutes Restaurant, in dem er nach Jahren zufällig einen Schulkameraden wiedertraf, der hier bediente. Auch, weil mir der Hotelbesitzer dazu geraten hatte und nun Alvino ins gleiche Horn blies, ohne sich allerdings beteiligen wollen, versuchte ich den Nationalschnaps, Pisco. Dabei handelt es sich eindeutig um Tresterschnaps. Lokal kommen nur Kräuter und oder Früchte dazu. Ich habe im Verlauf der Reise Kräutervarianten kennenglernt, an die ich mich hätte gewöhnen können. Nach einigen Bieren wurde es für Alvino Zeit, sich zu verabschieden und ich kehrte ins Hotel zurück, um mich meinen allabendlichen Geschäften zu widmen.

Organisation

Als ob ich geahnt hätte, daß das Museum in der Salesianerschule an diesem Tag geschlossen war, ließ ich mir Zeit beim Aufstehen und Frühstücken. Nach dem fruchtlosen Spaziergang zu den Salesianern, beschloß ich, mich bei der Touristeninformation gegenüber der Plaza de Constitución über die Stadt kundig zu machen. Die junge Frau war sehr nett und hilfsbereit und so fand ich einige Informationen des Reiseführers veraltet, die sie korrigieren konnte. Weil sie es genau wissen und den Verlag informieren wollte, ging ich ins Hotel zurück, um das Buch zu holen, auch damit sie die e-Mail-Adresse hatte. Außerdem nutzte ich die Gelegenheit das Verhalten Lucho Hurtados zur Sprache zu bringen und den hohen Preis der Zimmer zu monieren, die seine Mutter vermietete, ohne, daß der Gegenwert gegeben war. Insgesamt dauerte die Aktion zwei Stunden, so daß der Vormittag fast vorbei war, als ich den Führer wieder ins Hotel gebracht hatte.

Der Hotelbesitzer, den ich an der Rezeption traf, sprach mich mit Mister an, was ich mir verbat. Wenn er schon nicht Señor sagte, sollte er Herr sagen. Die Aussprache bereitete ihm Probleme und es klang eher, wie "Cherr", aber von da ab genügte ein Blick, wenn er mich gewohnheitsmäßig Mister nennen wollte, um ihn zu korrigieren. Im Reiseführer fand ich ein Steakrestaurant in der Nähe des Hotels, das aber ziemlich geschlossen aussah. Wann immer ich später zufällig vorbeilief, offen war es nie. Daher probierte ich zum Mittagessen das angeblich beste Restaurant der Stadt, das Olimpico, aber ich fand es hauptsächlich teuer. Gegessen habe ich tatsächlich anderswo besser.

"Die Stimme des Säers"

Nach der Siesta traf ich mich mit Alvino und wir gingen nach Nordosten in einen ärmeren Stadtbereich an der Bahnlinie, wo die Straßen ungeteert waren und eine Unzahl fliegender Händler die Straßen bevölkerten. Er sagte, er wolle mich zu seinem größten Hobby mitnehmen. Er führte mich in einen Hinterhof, von dem aus wir einen kleinen Raum betraten, in dem sich bereits einige Leute eingefunden hatte. Er stellte mich seinen Kollegen vor und mußte unmittelbar mit seiner Arbeit beginnen. An einer wenig professionellen Sendeanlage, an die ein Kassettenrekorder und ein Mikrofon angeschlossen waren, machte sich der Techniker zu schaffen und Alvino begrüßte seine Zuhörerschaft. Der Sender hieß Radio Palästina und sein Programm El Voz del Sembrador, die Stimme des Säers.

Er hatte mich vorher den Titel auswendig lernen lassen, damit ich ihm bei seiner Ansage helfen könne. Wie der Titel vermuten ließ, handelte es sich um eine Art christlichen Landfunk, von dem Alvino behauptete, er sei ziemlich beliebt. Zwischen den keineswegs religiösen Musikbeiträgen sprach er improvisierte Texte, die die alltäglichen Probleme seiner Hörer betrafen. Nach wenigen Ansagen und Folklorestücken forderte er mich auf, mich neben sich zu setzen und mich nach dem nächsten Musikstück vorzustellen, was er durch Zwischenfragen unterstützte. Nachdem ich noch etwas Werbung für ihn und sein Programm gemacht hatte, setzte ich mich in den Hintergrund des Raumes, wo ich auf einen Anthropologen traf.

Der etwa dreißigjährige Mann erzählte mir, daß er im Umweltbereich arbeitete, der hier langsam entdeckt wird. Das Gespräch war für mich deswegen interessant, weil er mir Aspekte nennen konnte, mit denen sich ein Geologe nicht beschäftigt, wenn er im Umweltbereich tätig ist, und er profitierte von meinen Erfahrungen, die ich einige Jahre vorher bei entsprechenden Arbeiten gemacht hatte. Huancayo ist Perus größter Binnenmarkt und die Anzahl der Umweltprobleme steigt daher rasant an. Über die kurzweilige Unterhaltung merkte ich kaum, daß Alvino sein Programm für diesen Tag beendete. Da wir uns immerhin in einem Studio befanden, in dem eigentlich Ruhe zu herrschen hatte, mußten wir den Raum verlassen.

Alvino ist mit mir ein Bier trinken gegangen und ich mußte ihm meine Meinung zu seinem Programm mitteilen. Da er die tienda ausgesucht hatte, auch weil er noch kurz in seiner Wohnung vorbeigeschaut hatte, lief ihm sein Vermieter über den Weg, dem ich ebenfalls ein Bier bezahlen mußte. Alvino habe ich mir deswegen danach zur Brust genommen. Wieso sollte ich seinen Vermieter einladen, ich hatte mit dem Mann doch überhaupt nichts zu schaffen.

Über ungeteerte Straßen führte er mich zu seinem Arbeitsplatz und zeigte mir seinen Webstuhl und einige recht ansehnliche Produkte seiner Arbeit. Wandteppiche mit Landschaften der Umgebung. Seinen Chef nannte er tio. Das Wort bedeutet Onkel. Ich fragte ihn, ob er wirklich mit ihm verwandt sei. Nein, sagte er, es handele sich nur um eine höfliche Ehrenbezeigung, ihn so zu nennen. Zum Abendessen kehrten wir in die Innenstadt zurück, wo wir uns für diesen Tag trennten.

Versackt

An der Rezeption des Hotels stand ein Peruaner in Anzug und Krawatte, der mich ansprach, als ich meinen Schlüssel abholen wollte. Eduardo stellte sich als Chefökonom der Nationalen Reservebank vor und verwickelte mich in eine angeregte Konversation. Er kannte selbstverständlich seine Landsleute und analysierte klar die Gründe für die schwierige Lage, in der sich Peru befindet. Er kannte sogar die Mittel, sie zu verbessern, aber er wußte auch, daß er einerseits an den korrupten Behörden und andererseits an der Gleichgültigkeit seiner Landsleute scheitern mußte. Dieser Zwiespalt hatte ihn offenbar in den Alkohol getrieben: Er holte eine Flasche zitronengeflavourten weißen Rum und wir setzten das Gespräch im Stehen fort.

Ich fragte ihn nach den Erfolgen der Nationalen Korruptionsbehörde, von der ich vorher schon gehört hatte. Die gäbe es, sicher, aber, da ihr oberster Chef selbst korrupt ist, könne die Korruption niemals wirklich erfolgreich bekämpft werden. Wie das Beispiel des ecuadorianischen Präsidenten zeigt, nützt es offenbar ebenso wenig, wenn ein Amtsinhaber sehr reich ist. Gegen Korruption ist hier scheinbar niemand gefeit.

Als sich ein blonder Schwede, der mit einer Peruanerin verheiratet war, zu uns gesellte, verflachte das Gespräch. Er stellte sich als Erik vor. Wegen seines massiven Sonnenbrandes konnte ich mich nicht enthalten ihn Erik El Rojo, also den Roten, zu nennen. Eigentlich erwartete ihn seine Frau auf ihrem Zimmer, aber er zog es vor, mit uns den Rum zu vernichten. Eduardo hatte vorher bereits erklärt, daß er seinen Hausschlüssel verloren hatte und deswegen käme er jetzt nicht nach Hause. Da er aber auch von seiner – zweiten – Frau erzählte, vermutete ich eher, daß er Schwierigkeiten hatte, sich durchzusetzen, wenn es um einen Herrenabend ging, auch weil ich den Eindruck hatte, daß er vorher schon getrunken hatte. Es war bereits nach zwei Uhr, als wir und herzlich voneinander verabschiedeten.



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