Tagebuch
55. Jauaja
Im Tal des Río Mantaro
Da ich am Vortag in der tienda beim Hotel erfahren hatte, daß sie keine Milch verkaufte, bin ich, etwas spät, aufs Fahrrad, um in dem langgestreckten Ort eine Bäckerei zu suchen. Schließlich wurde ich fündig und konnte ein gutes, aber relativ teures Frühstück genießen. Um neun Uhr war ich endlich auf der Landstraße. Auf der schlechten, von Schlaglöchern übersäten Piste fuhr ich, nachdem ich eine häßliche Mine am Ortsausgang hinter mir gelassen hatte, durch ein schönes Tal, das, wo es nicht grün war, schöne Falten im Kalkstein zeigte. Die Straße folgte dem Río Mantaro, dessen steile Hänge zunehmend grüner wurden. Und unmerklich auch flacher.
Die Straße war ziemlich wellig und teilweise inakzeptabel, weil’s Schlaglöcher in Straßenbreite auf dreißig bis vierzig Meter Länge gab. Beim Kilometerstein 36, bei einer kleinen Insel im Fluß, legte ich die erste, notwendige Pause ein. Ich setzte mich an den Straßenrand, aß, trank und rauchte. Dabei fielen mir die fossilreichen Kalkschichten aus der Kreide auf. Ich entdeckte Brachiopoden, das sind muschelähnliche Armfüßer, Schnecken, Seeigel, Muscheln und Skelettreste von Kalkschwämmen. Ich sah mir einige der Fossilien näher an und bedauerte wieder, aus Gewichtsgründen nichts mitnehmen zu können.
Ich fuhr weiter die Landstraße am Río Mantaro entlang, die stellenweise Schlaglöcher hatte, die die gesamte Straßenbreite umfaßten und bis vierzig Meter lang waren. Wenige kleine, ätzende Dörfer hielten Hunde bereit, die ich mit der Wasserpistole auf Distanz hielt, störten die idyllische Fahrt, zumal auf der Straße wenig Verkehr herrschte. Einmal sah ich, daß sich mindestens eine Familie eine kleine Höhle in die Böschung der Straße gegraben hatte und durch mit Zweigen gestützte Plastikplanen notdürftig gegen die Witterung geschützt hatte.
Ansonsten hatte viel Gelegenheit, die Landschaft und die gute Luft zu genießen. Bei der zweiten Rast stellte ich zu meiner großen Freude fest, daß ich zum ersten Mal besser war, als der Radfahrer, dessen Berichte ich bei den South American Explorers kopiert hatte. Ein Engländer, der wenige Jahre vorher mit seinem Fahrrad von Quito aus bis Cusco gefahren war, hatte ziemlich sorgfältig Buch geführt und ich profitierte nun davon. Seit Quito machte ich nun ebenfalls Aufzeichnungen von Durchschnittsgeschwindigkeit und Sattelzeit, um meine Berichte ähnlich akkurat gestalten zu können. Ich war nicht immer auf der selben Strecke gefahren, wie der Engländer, der sich zwar ebenfalls an der Nordküste Perus bewegt hatte, aber wesentlich früher ins Gebirge zurückgekehrt war. In La Oroya kreuzten sich unsere Routen wieder und ich sah mich nun erstmals schneller auf der Strecke und ich fragte mich, was für ein Problem er wohl gehabt hatte. Es sollte das einzige Mal bleiben.
Gut fünfzehn Kilometer vor Jauja setzte ein mächtiger Geröllhorizont ein, der an einer Störung eines Seitentals zwar wieder dem Kalk Platz machte, aber kurz vor Jauja endgültig bestimmend wurde. Die immer wieder auftretenden, bis mehrere hundert Meter großen Falten in den Kalken waren durch den Flußlauf immer wieder gut angeschnitten und ich könnte mich kaum sattsehen. Schließlich wechselte ich ein letztes Mal die Seite des Mantaro bei Sausa. Den Rest der fast neunzig Kilometer bis Jauja stieg die Straße wieder etwas an, aber glücklicherweise waren die anfangs steilen und hohen Seitenwände des Flusses zu Hügeln geworden, die kein Problem mehr darstellten. Selbst, wenn Jauja etwa vierhundert Meter tiefer liegt, als La Oroya, hatte ich keineswegs den Eindruck, eine Abfahrt gemacht zu haben, obwohl der Stundendurchschnitt von knapp zwanzig Kilometern nicht dagegen sprach.
Jauja
Der bereits 1534 von Pizarro als Provinzhauptstadt gegründete Ort, gefiel mir auf den ersten Blick. Umgeben von Hügeln, in sehr guten Klima, sah ich meist ansprechende Häuser und überwiegend freundliche Menschen. Ich fand meinen Weg schnell zu dem als besten gelobten Hotel, fand es aber nur mäßig. Vor allem der Mangel an Warmwasser, wenigstens im eigenen Bad, auch im zweiten Zimmer, das man mir dort anbot, stimmte mich mißmutig.
Nach einer im besten Fall lauwarmen Dusche und einer kurzen Ruhepause, sah ich mir das Zentrum des netten und beschaulichen, aber wenig touristischen Ortes an. Nach einem Stärkungsbier ging ich ins Internet, das ich schnell gefunden hatte, um die Mail-Gemeinde auf dem Laufenden zu halten. Fast zwei Stunden später, beim Abendessen in einem kleinen Restaurant an der Plaza de Armas erzählte mir der Wirt von einer deutsch geführten Pension. Da ich mir den Ort sowieso mindestens eine Tag ansehen wollte und das Fahrrad Wartung brauchte, beschloß ich, bei der nächsten Unregelmäßigkeit im Hotel, in die deutsche Pension zu wechseln.
Als hätte ich es vorrausgesehen, war das Wasser in der Dusche morgens nur lauwarm. Also lief ich nach dem Frühstück zu der deutschen Pension. Die südhessische Besitzerin war jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht da, so daß ich beschloß, zuerst etwas Sightseeing zu machen. Das erwies sich aber, abgesehen von der Christo Pobre-Kirche, als schwierig. Der "Arme Christus" soll eine Nachbildung von Notre Dame (im Paris) sein. Neogotisch und ziemlich klein, war mein Eindruck, wohl weil ich schon vor dem Orginal gestanden hatte.
Ich ging zurück zur Plaza de Armas, wo ich im Rathaus eine Tourismusabteilung fand. Hier schien man weniger auf Publikumsverkehr eingestellt, zeigte sich aber hilfsbereit. Die eigentliche Touristeninformation neben dem Rathaus erschien mir eher wie ein Souvenirladen.
Der Fossiliensammler
Obwohl ich eigentlich ein archäologisches Museum erwartet hatte, kam ich in das Privathaus eines Lehrers, der ein Zimmer am Eingang mit Fossilien und Mineralien der Umgebung vollgestopft hatte. Seine Tochter ließ mich und ein peruanisches Paar, das sich mir bei der Suche angeschlossen hatte, in den Raum, aber ihre Erklärungen waren mir zu dürftig. Da es keinen Eintritt kostete, aber eine Spende erwartet wurde, ließ ich mich nicht lumpen und gab ein paar Soles, weil ich die Idee und das Engagement des Gründers für förderungswürdig hielt.
Als ich gerade gehen wollte, kam Henoch, der Hobbypaläontologe. Wir unterhielten uns eine ganze Weile und ich mußte feststellen, daß sein Wissen etwas beschränkt war, weil es ihm an neuerer Literatur fehlte. Er wußte auch nicht, wo er sie herbekommen sollte. Weil ich der erste Geologe war, der sein Museum, das er in über zwanzig Jahren Sammelarbeit aufgebaut hatte, besuchte, vereinbarten wir für den Nachmittag eine gemeinsame Exkursion zu seinen Fundpunkten.
Ich lief anschließend erneut zu der deutschen Pension und hatte diesmal mehr Glück. Die Besitzerin zeigte mir die schönen, aber nicht ganz billigen Zimmer und ich holte daraufhin mein Gepäck aus dem Hotel, wo man sichtlich betroffen war, daß ich als Einnahmequelle ausfiel. Vielleicht treibt sie das zu akkurateren Leistungen.
In der Pension lebte außer der nicht mehr jungen Besitzerin ein etwa dreißigjähriger Mann der aufgrund einer schweren Krankheit seine Beine nicht mehr bewegen konnte und auf Krücken lief. Enrique unterhielt sich eine Weile mit mir und bot mir dann an, mir ein gutes Restaurant zum Mittagessen zu zeigen. Ich willigte ein und wir gingen durch einige Gassen weg von Zentrum, wo ich tatsächlich gut essen konnte. Er kam nicht mit hinein, aber ich traf ihn im Innenhof der Pension wieder, wo er meine Meinung zu dem Restaurant hören wollte. Ich sagte ihm, daß ich zufrieden war. Leider konnten wir das Gespräch nicht ausdehnen, weil ich mich auf den Weg machen mußte, um Henoch bei der Abfahrtsstelle des Kleinbusses zu treffen.
Er hatte noch einen Kollegen, Jaime, mitgebracht, der ebenfalls Fossilsammler war. Wir fuhren gemeinsam die Straße am Río Mantaro entlang, die ich am Vortag gekommen war, ein Stück zurück und verließen den Kleinbus, um über eine Hängebrücke auf die Seite zurückzukehren, auf der auch Jauja liegt. Wir liefen eine Weile den Eisenbahnschienen entlang, von denen ich vermutete, daß es dieselben waren, die von Lima über Ticlio nach Huancayo führten. Inzwischen hatte es zu regnen begonnen. Ich hatte meinen Regenponcho mitgebracht, der sich aber beim Erklettern der Berghänge als hinderlich erwies. Der Regen hatte aber immerhin den Vorteil, daß das anstehende Gestein, Kalkbänke mit Tonsteinzwischenlagen, realistischere Farben erhielt und abgewaschen wurde. Ich erklärte den beiden was zu Falten und Schieferung, sowie zu Störungen und Klüften, die teilweise mit Malachit, einem Kupferkarbonat, meist aber mit Kalzit verfüllt waren, oder Harnische, das sind Gleitstriemen, die durch die Bewegung von Gesteinspaketen aneinander entstehen, aufwiesen.
So mäßig ihre Kenntnisse der allgemeinen Geologie waren, so gut hatten sie sich auf die angetroffenen Versteinerungen vorbereitet. Die lateinische Nomenklatur toter Tiere und Pflanzen war noch nie mein Fall gewesen, so daß ich wenig Möglichkeiten hatte, zu überprüfen, ob die Einordnung der beiden Hobbypaläontologen korrekt war. In den allermeisten Fällen, glaubte ich aber davon ausgehen zu können, daß sie die aus der Kreide stammenden Meeresfossilien richtig bestimmt hatten. Henoch versuchte, mich aufs Glatteis zu führen, als er mir eine große Tongalle, dabei handelt es sich um einen ellipsoidalen Einschluß von Ton im Kalk, zeigte. Da ich an diesem Aufschluß, vorher schon, ähnlich geformte Riesenaustern vergleichbarer Größe gesehen hatte, wunderte ich mich etwas über seine Frage. Ich untersuchte das vermeintliche Fossil und kam zum richtigen Schluß, was seine Herkunft anlangte. Bei den schönen Ammoniten, die ich immer wieder zu sehen bekam, bedauerte ich erneut, mich nicht mit Handstücken belasten zu können, allerdings konnte ich einem daumennagelgroßen Ammoniten doch nicht widerstehen und habe ihn tatsächlich heil von der Reise mit zurückgebracht.
Wir mußten kräftig ausschreiten, um noch vor Einbruch der Dunkelheit die Landstraße zu erreichen, von der aus wir mit einem Kleinbus zurückkehren wollten. Hier standen drei Häuser, von denen eines eine tienda war. Während wir warteten, bildeten sich drei weitere Gruppen von Wartenden, von denen ich mich fragte, woher sie kamen, denn in der Umgebung war sonst nichts.
Plötzlich öffnete sich hinter uns die Tür der tienda, die ich erst in diesem Moment als solche erkannte und ein Betrunkener taumelte heraus. Er war wohl gerade rausgeflogen. Der Mann konnte sich nicht lange auf den Beinen halten und lag ziemlich schnell im Schlamm. Henoch schien dieses Verhalten peinlich zu sein. Es kamen zwar einige Leute, die versuchten ihn wieder auf die Beine zu bringen, aber sie hatten keinen Erfolg. Es war recht kühl, aber weil Winter war und wegen der Wolken das Land nicht so stark auskühlte, wie im Rest des Jahres, bestand wohl keine Gefahr, daß er erfrieren würde. Henoch gab allerdings zu, daß immer wieder Betrunkene nachts erfroren. Das erlebte ich überall in den Hochlagen der Anden.
Wir warteten eine ganze Weile, bis schließlich ein Reisebus kam, auf dem Especial stand. Einige Meter von uns entfernt standen zwei junge Frauen an der Straße, bei denen der Bus anhielt, obwohl wir ebenfalls signalisiert hatten, daß wir mitwollten. Das, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen, sei das Spezielle an dem Bus, daß er eben nur junge Frauen mitnahm. Wir warteten weiter im Regen, bis schließlich ein Kleinbus kam, der uns zurück nach Jauja brachte. Obwohl ich eigentlich am nächsten Tag weiter wollte, überzeugte mich Henoch, am nächsten Tag eine weitere Exkursion zu machen.
Intermezzo
Nachdem wir uns herzlich verabschiedet hatten, holte ich meine Wäsche, die ich am Vortag in eine Wäscherei gebracht hatte und ging Essen. Da einer meiner Mail-Partner geologisch in Spanien gearbeitet hatte, bat ich ihm übers Netz, er solle sich nach allgemeinbildender geologischer Literatur umsehen, weil Henoch offenbar keine Möglichkeit hatte, sich derartige Literatur zu beschaffen. Selbst seine Paläontologiebücher, die ich am Vormittag in seinem Museum gesehen hatte, waren ziemlich alt. Leider brachte der Versuch nichts ein.
Der Tag begann schlecht, weil ich ziemlich viel Zeit damit verschwenden mußte, ein Frühstück zu finden. Als ich endlich damit fertig war, kehrte ich zur Pension zurück und widmete mich der Reinigung und Wartung des Fahrrads. Enrique, der offenbar nichts zu tun hatte, leistete mir Gesellschaft. Während ich mich um das Fahrrad kümmerte, unterhielten wir uns, bis es an der Tür klingelte und er öffnete.
Ich war ziemlich erstaunt, als er mir einen Besucher anmeldete. Abel war Ende zwanzig und Künstler. Zu mir gekommen war er, weil er mit einigen Freunden eine Tour durch Tawantinsuyo, das alte Inka-Reich, plante und dabei auf meine Langstreckenerfahrungen auf dem Fahrrad zurückgreifen wollte. Ich half ihm natürlich gern. Das Gespräch blieb allerdings theoretisch, bis ich mit dem Fahrrad fertig war und mir die Hände waschen konnte. Anschließend holte ich meine Reiseunterlagen und Karten, um ihm einen Überblick zu geben, was auf ihn und seine Freunde zukam. Er blieb bis Mittag und zog schließlich zufrieden wieder ab. Enrique zeigte mir wieder ein gutes Restaurant und ich traf anschließend meine Vorbereitungen, erneut mit Henoch ins Gelände zu gehen.
Erneute Exkursion mit Henoch
Wir trafen uns diesmal in einem Hof, von dem die Kleinbusse eines Transportunternehmens starteten. Da sich die Abfahrt verzögerte, unterhielten wir uns vor dem Bus über Frühgeschichte. Das Gespräch war beiderseits sehr befruchtend. Schließlich fuhr der Bus los und diesmal fuhren wir erheblich weiter die Straße den Río Mantaro entlang, zurück in Richtung La Oroya.
Während die Hügel größer wurden und zunehmend mehr Anschnitte im Gestein zeigten, erklärte ich ihm einiges Grundsätzliches zur Geologie. Der Kleinbus war ziemlich voll und der Großteil der Leute konnte unser Gespräch hören. Erst hinterher ist mir aufgefallen, daß alle Gespräche verstummt waren. Henoch, der offenbar bekannt ist, erklärte den anderen Fahrgästen, daß ich Geologe sei und meine Erklärungen von größter Bedeutung für ihn wären. Mir war das etwas peinlich, aber Henoch bestand darauf, daß ich weitermachte.
In der Nahe eines Quarzsandabbaus, der mir schon auf dem Hinweg aufgefallen war, erzählte er mir von auf der Spitze eines der umliegenden Berge vorkommendem Tertiär. Er habe hier die Reste von Mastodonten und versteinertes Holz gefunden. Nun aber wollte er wissen, wie diese relativ jungen Schichten auf den viel älteren Kalk kamen. Einen kurzen Augenblick lang brachte er mich damit aus der Fassung, weil ich nicht nachvollziehen konnte, wie man etwas derart Triviales fragen konnte. Das Jüngere wird immer auf das Ältere abgelagert. Allerdings bezog sich seine Frage auch darauf, wieso auf den Meeressedimenten Landablagerungen liegen konnten. Hier nun kam die spezielle Situation am Rand der Subduktion zum Tragen. Ein angelagerter Inselbogen, der im Tertiär offenbar belebt war, hatte sich in der Frühzeit der Subduktion offenbar auf den sich auffaltenden Kontinentalrand geschoben. Henoch war begeistert. Mir wäre allerdings wohler gewesen, wenn ich die Schichten und vor allem deren Kontakte mit den darunterliegenden Schichten selbst in Augenschein hätte nehmen können.
Schließlich verließen wir den Kleinbus und marschierten die steilen Hänge hinauf, um zu seinen Fossilfundpunkten zu gelangen. Hier fand ich gefaltete und geschieferte bunte Tonlagen zwischen Kalkbänken mit Ceratiten, Seelilien, Austern mit über einem Meter Durchmesser, Brachiopoden und Seeigeln in die quarzige Feuersteine und riesige Tongallen eingeschaltet waren. Stellenweise war der Ton noch weich, und die Schalen waren erhalten. Das ist deswegen erwähnenswert, weil üblicherweise die Schalen nur als Abdrücke erhalten werden oder durch wässrige Lösungen im Gestein von anderen Mineralen ersetzt werden. Die mindestens zwei Kluftsysteme, die ich erkennen konnte, zeigten uns an, daß das Gesteinspaket kräftig durchbewegt worden war. Dafür sprach auch das Auftreten von Marmor und nicht weit davon entfernt wieder Tertiär. Marmor ist Kalkstein, der in tieferen Krustenstockwerken erhöhtem Druck und Temperatur ausgesetzt war. Das nicht veränderte Tertiär in der Nähe sprach für eine große Störung, die die metamorphen Kalkschichten nachträglich wieder nach oben geschoben hatten. An einer Stelle sahen wir eine Zone der Zerstörung im Gestein, die die Bewegungsbahn gewesen war (Kataklastit).
Es blieb zwar trocken, aber mit dem Bus hatten wir noch mehr Schwierigkeiten, als am Vortag. Zurück in Jauja schließlich, liefen wir durch die Nacht zu einem Restaurant, weil ich ihn zum Essen eingeladen hatte, für die beiden schönen Nachmittage. Dabei trafen wir auf Luis, einen von Henochs Freunden und Mitbegründer des archäologischen Heimatmuseums. Der Mestize hatte Ingenieurwissenschaften studiert und berichtete mir stolz von seinen deutschen Vorfahren, die sich in seinem Familiennamen noch erhalten sind.
Wir kamen eher zufällig auf meine Probleme mit der Höhenanpassung zu sprechen, wozu auch Verdauungsschwierigkeiten gehörten. Die beiden sind sofort mit mir in einen kleinen Laden gelaufen und haben mir empfohlen, Kokablätter zu kaufen. Die hier völlig legalen Blätter sorgten dafür, daß ich mich schnell an die Höhe gewöhnte und ich alle damit verbundenen Beschwerden loswurde. Die Blätter berauschen zwar nicht, wenn man, was ich nie getan habe, keinen Kalk dazu verwendet, aber bei harten Etappen auf der weiteren Strecke halfen sie mir nicht unbeträchtlich und bis ich zurückflog, hatte ich immer einige Blätter bei mir.
Unfreiwillige Verlängerung
Nachdem wir uns verabschiedet hatten, gingen Henoch und ich zum Essen. Wir unterheilten uns sehr gut, bis Henoch zu seiner Familie aufbrach. Zurück im Hotel, saß ich eine Weile bei Enrique, der mir erzählte, daß er wegen einiger Operationen in Italien gewesen war und dort zehn Jahre gelebt habe. Obwohl es schon ziemlich spät war, traf ich meine Vorbereitungen, um am nächsten Tag weiterzufahren.
Als ich von meinem kleinen Reisewecker geweckt wurde, hörte ich den Regen prasseln und beschloß, im Bett zu bleiben. Das Wetter änderte sich auch später nicht und so wollte ich den Tag zur weiteren Planung bis ins gut tausend Kilometer entfernte Cuzco nutzen. Nach dem Frühstück, das mir die Pensionswirtin diesmal dazu gratifizierte, blieb ich im Frühstücksraum und wälzte meine Unterlagen. Dabei stellte ich fest, daß ich etwa zu Ostern in Cuzco eintreffen würde und dazu hatte ich keine Lust, weil dort genauso Ostersaison mit überhöhten Preisen und vielen Touristen zu erwarten war, wie überall, wo mehrheitlich Christen leben. Allerdings kannte ich die Strecke nicht. Ich ging jedoch davon aus, daß es nicht würde schlimmer kommen können, als das was ich bereits erlebt hatte. Hier irrte ich allerdings.
Enrique kam irgendwann vorbei und unterstützte mich mit seinen Landeskenntnissen bei der Planung. Als es auf Mittag zuging, meinte er, er wolle kochen und mich einladen. Ich hatte nichts dagegen und so ging er einkaufen, während ich die Planung abschloß. Er hatte wohl ein befreundetes Paar getroffen, das er ebenfalls zum Essen mitbrachte. Was er kochte, schmeckte mir zwar, aber seine Ansicht, daß es sich dabei um Pesto alla Genovese handelte, mußte ich allerdings korrigieren, da er kein Basilikum verwendet hatte. Dabei lernte ich das spanische Wort, denn ich benutzte intuitiv das italienische, das dem deutschen näher ist: albahaca und basilico. Wir saßen nach dem Essen noch ein Weile beim Small Talk, bevor ich mich zu Siesta zurückzog.
Nachher lief ich durch den Ort, bis ich in einer tienda meinen Durst löschte. Die Betreiberin wollte mich gar nicht mehr weg lassen, aber nach dem zweiten Bier hatte ich endgültig genug. Wie überall mußte ich die Frage beantworten, wie es Deutschland sei, ob es hier ebenfalls Küste, Bergland und Dschungel gäbe. Ich hatte meine Antwort schnell standardisiert: Küste und Berge gäbe es wohl, aber diese Landschaften würden sich von den südamerikanischen unterscheiden. Die relativ geringe Höhe der Mittelgebirge und der deutschen Alpen würde natürlich immer belächelt. Und Urwald könne es aus klimatischen Gründen nicht geben, aber Wälder gäbe es schon. Gerade bei den Bewohnern heißer Regionen erzeugte die Vorstellung von Winter mit Eis und Schnee ziemliches Unbehagen. Auch Humboldt hatte in den heißen Küstenregionen gelegentlich nachts gefroren, obwohl er als Mitteleuropäer Temperaturschwankungen von über fünfzig Grad, übers Jahr gesehen, gewohnt war. Kein Wunder also, daß die Menschen des tropischen Südamerikas, die in den Nichthochgebirgsregionen leben und damit etwa zwanzig Grad jährliche Temperaturdifferenz bereits als unangenehm empfanden ziemlich geschockt waren. In den Bergen hier kann einem die Sonne zwar kräftig die Haut verbrennen, aber ich traf meist ein gemäßigtes Klima an, was aber Nachtfröste nicht ausschließt.
Über die Pension kehrte ich in das Restaurant zurück, in dem ich mit Henoch am Vorabend gewesen war. Anschließend ging ich zur Pension, wo mich Enrique einlud, ihn zu begleiten. Wir gingen in ein Privathaus, das einen Partyraum hatte, der offenbar eine Art Privatkneipe war. Die wenige Gäste saßen an einem Tisch. Zuerst hörten wir recht guten Rock, dessen Texte in Quechua waren. Später holte ich auf Anfrage meine Kassetten, die großen Anklang fanden.
Einer der Peruaner war deutlich als Weißer zu erkennen, besonders unter all den Mestizen und Indianern am Tisch. Als ich mich mal wieder über die auf dem Weg gehörte Bezeichnung gringo aufregte, sagte der weiße Peruaner, ich solle mir nichts daraus machen, selbst er, ein gebürtiger Peruaner, würde gelegentlich so angesprochen.
Auch eine andere peruanische Unhöflichkeit hat offenbar Tradition. Auf Quechua gibt’s kein "danke". Wenn man sich hier bedankt, wollten sie mir einreden, dann für was Richtiges. Im Lauf der weiteren Reise fragte ich noch mehrmals nach der Übersetzung von "danke", erhielt aber nur in einem Fall eine Antwort. Die Erklärung, daß das Sozialsystem der Gemeinschaftsarbeit ein solches Wort überflüssig machte, da jeder selbstverständlich für die anderen arbeitete, erscheint mir jedoch glaubhaft. Mit allgemeinem Bedauern wurde meine Entscheidung, mich nicht zu spät zu verabschieden, um die Etappe nach Huancayo nicht nochmals verschieben zu müssen, aufgenommen, aber auch verstanden. Enrique ist noch geblieben.