Tagebuch
54. Der Anticona-Paß
Auf über viertausend Meter
Da ich wieder Schwierigkeiten mit dem Frühstück hatte, habe ich erst nach acht San Mateo verlassen. Ziemlich bald dahinter begann eine Klamm, die der Río Rimac in das Gestein gegraben hatte. Der Name Infiernillo, Höllchen, wird wegen der Verniedlichung dieser großartigen Landschaft kaum gerecht. Mehrere hundert Meter hohe Felswände um den Fluß, deren Ränder künstlich erweitert waren, um der Straße Platz zu bieten. Über der Straße war auf Vorsprüngen, Brücken und in Tunneln immer wieder die abenteuerliche Bahnstrecke zu sehen, die ich eigentlich von Lima aus hatte nutzen wollen. Der US-amerikanische Bahningenieur Henry Meiggs, nach dem auch ein Gipfel in der Umgebung benannt ist, hat hier mit Hilfe vieler chinesischer Einwanderer im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts diese beeindruckende Großtat vollbracht. Die Autostrecke, auf der ich fuhr, hatte nur vier Tunnel aufzuweisen, von denen der erste für unbeleuchtete Radfahrer der gefährlichste ist, weil er kleine Kurve macht. Alle Tunnel sind jedoch recht kurz und ich hatte Glück, daß an diesem Samstagmorgen wenig Verkehr herrschte.
Schließlich erreichte ich, an steilstehenden, gefalteten Vulkanosedimenten vorbei, ein Hochtal, das weitgehend grün war. Hier schraubte sich die Straße in Serpentinen höher und höher. Ich bin sicher steilere Strecken auf der Reise gefahren, als diese, aber bisher war ich nie so hoch gewesen. Entsprechend war mein Erschöpfungsgrad, auch wenn ich wieder Kokatee gerunken hatte und einige Pausen einlegte. Endlich, mit fast am Boden schleifender Zunge sah ich das viertausendzweihundert Meter über dem Meer gelegene Nest Casapallca über mir liegen. Das war kurz vor Mittag.
Ich steuerte zielstrebig die einzige Unterkunft an. Das Zimmer erwies sich als winzig und äußerst primitiv. Das hätte ich noch hingenommen, aber das Gemeinschaftsbad ohne Dusche, im Hof, ein Loch im Boden, war derart verdreckt, daß ich die Lust verlor, hier zu übernachten. Als ich den Preis für diese Unverschämtheit zu hören bekam, ist mir endgültig der Kragen geplatzt. Ich stritt mich mit den beiden frechen Mädchen, die wohl ihre Eltern vertraten, solange herum, bis mir klar wurde, daß ich hier nur unnötig Zeit verlor. Abrupt drehte ich mich herum und trug das Fahrrad über Treppen, die den den Namen nur streckenweise verdienen, zum hundert Meter tiefer gelegenen Eingang der Mine. Die Wächter erinnerten sich meiner und nahmen das Fahrrad in Verwahrung, während ich schnell in der Kantine vom Vortag aß.
In der Yauliyacu-Mine
Anschließend hetzte ich zu den beiden Geologengebäuden, wo mich Pablo schon ungeduldig erwartete. Seine Eile ließ mich vermuten, daß er eigentlich samstags wohl nur halbtags arbeitete, aber er sagte, daß man sich wegen der Arbeiter beeilen müsse, die Samstags offenbar früher Schluß machen und hinter sich die Mine absperrten. Also liefen wir zügig zu den Loren, die ich am Vortag schon gesehen hatte und fuhren in den Stollen ein. Dazu gab er mir einige grundsätzliche Erläuterungen zur Mine, da ich mit Pio nur allgemein über die geologischen Verhältnisse der Gegend gesprochen hatte. Pablos Aufgabe war, den Arbeitern in der Mine mit einer Spraydose die Partien zu markieren, die von Hand abgebaut wurden. Die Maschinen wegen kleinerer Erznester in Stellung zu bringen, lohnte sich offenbar nicht.
Wir führen hinab auf die fünfte Ebene, die weitgehend abgebaut war. Einige rußverschmierte Arbeiter, die mit Pickeln die letzten Reste von nutzbarem Material aus der Wand brachen, trafen wir noch an, aber Pablo erklärte mir, daß die Hauptabbauebene inzwischen viel tiefer lag. In der seit hundert Jahren betriebenen Mine, wie einige Holzverbauungen beweisen sollten, wird silberhaltiger Bleiglanz, Pyrit, das auch als Katzengold bekannt ist, und Tetrahedrit, ein Kupfer-Antimon-Sulfid, abgebaut. Die Mine erbringt somit Blei, Eisen, Kupfer, Antimon, Silber und Schwefel. Mindestens. Heiße, mineralisierte Wässer waren aus der Tiefe aufgestiegen und in den Spalten der Vulkanosedimente abgekühlt und zu den vorgenannten Mineralen sowie Kalzit und Quarz kristallisiert. Nach einem anstrengenden, fast zweisündigen Marsch durch die spärlich beleuchteten Gänge fuhren wir wieder aus. Wegen der heftigen Radetappe vorher, war ich ziemlich geschafft.
Die mineneigenen Wohnungen von Bellavista
Auf dem Weg zurück zu den Gebäuden der Geologen erzählte ich Pablo von meinen Schwierigkeiten eine Übernachtung zu finden. Dabei beschönigte ich etwas und ließ einiges unerwähnt. Daraufhin begann er im Büro herumzutelefonieren. Auch in Peru schien dies an einem Samstagnachmittag nicht ganz einfach. Ich unterhielt mich in der Zwischenzeit mit einigen anderen Geologen, nur junge, die offenbar ebenfalls an diesem Tag arbeiten mußten.
Schließlich kam Pablo zurück und meinte, wir könnten gehen, da er endlich doch Erfolg gehabt hatte, bei seinen Bemühungen, eine Unterkunft für mich zu finden. Im strömenden Regen liefen wir zum Parkplatz vor dem Minengelände. An der Wachstube nahm ich mein Fahrrad wieder in Empfang und gab den Besucherausweis zurück. Einer der jungen Männer fuhr einen Pickup, auf dem ich das Fahrrad verstaute und mich dazu auf die Ladefläche setzte, wo noch einige weitere Mitfahrer Platz nahmen. Wir fuhren zu meinem Leidwesen neun Kilometer und etwa vierhundert Höhenmeter zurück nach Bellavista, knapp östlich von Chicla. Hier erwartete mich eine äußerst angenehme Überraschung. Eine Wohnsiedlung für leitendes Personal, die soweit ich sah, derzeit über keine Bewohner verfügte. Die Wächter am Eingangstor wiesen mir einen Bungalow zu, nachdem ich mich bei Pablo bedankt und ihn und die Kollegen verabschiedet hatte.
Das Reihenhaus hatte zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer mit Kamin, den ich mir sofort füllen ließ, eine Küche, zwei Bäder, von denen eins sogar mit Badewanne ausgestattet war, die ich sofort genutzt habe, und einem Konferenzraum. Während am Kaminfeuer meine nassen Kleider trockneten, nahm ich das einzige Wannenbad der gesamten Reise. An diesem Tag hatte der Regen bereits gegen Mittag begonnen und obwohl die Satteltaschen wasserfest waren und mein Regenponcho sich bewährt hatte, war es trotzdem nicht möglich gewesen, alles trocken zu halten.
Einigermaßen ausgeruht und erwärmt ging ich zu den Wächtern in ihrem kleinen Häuschen am Eingang der umzäunten Anlage. Die waren froh, daß sie einen neuen Gesprächspartner gefunden hatten, denn sie verbrachten offenbar die ganze Zeit, auch nachts, in ihrer kleinen Wachstube. Ich mußte mich jedoch bald losreißen, weil ich Hunger hatte. Sie empfahlen mir ein gutes Restaurant in der Arbeitersiedlung auf der anderen Seite der Straße. Das Restaurant und das Essen waren einfach, aber billig und gut.
Da zu wenig Tische in dem kleinen Raum standen, setzte sich ein Minenarbeiter an meinen Tisch, der sich später als Ramón vorstellte. Er erzählte mir von den harten Arbeitbedingungen in der Mine, gab aber auch zu, im peruanischen Vergleich gut zu verdienen. Die Menschen hier waren etwas scheuer, als ich es anderswo erlebt hatte, aber nach einer Weile genauso freundlich und neugierig, wie ich es schon kannte. Die höhere Arbeitsmoral fiel mir nicht nur im Gespräch mit Ramón auf. Ich blieb etwa eine Stunde, bevor ich mich an einer tienda auf dem Weg mit den Vorräten für den Abend eindeckte. Am Wachhaus redete ich noch mit meinem Sicherheitspersonal, bevor ich mich in mein Haus zurückzog, um meinen allabendlichen Geschäften nachzugehen. Weil es keinen Fernseher gab, las ich unter meinem Walkman in den Reiseführern, was noch auf mich zukommen würde.
Ich hatte zwar keine Krämpfe in den Beinen mehr gehabt, aber ich hatte, auch wegen der Qualität der Wohnung, die mich nichts kostete, wenig Lust aufzubrechen. Da es auch zur Höhenanpassung diente, beschloß ich, einen echten Ausruhtag hier einzulegen. Also ging ich zu den Wächtern, die eine Weile herumtelefonierten, bis mir bestätigen konnten, daß ich noch eine weitere Nacht bleiben könne. Nach dem Frühstück lief ich ein wenig durch die Gegend.
Da das Wetter an diesem Vormittag recht gut war, konnte ich die Berge der Umgebung gut sehen und die Falten, in die der Gebirgsdruck die Schichten gelegt hatte. Bis zu einigen Zehner Metern waren die Falten groß. Ich hatte zwar keine Ausrüstung, sie zu vermessen und klassifizieren, aber sie erfreuten jedenfalls meine Augen. Zurück am Eingang verwickelten mich die Wächter in ein ausgedehntes Gespräch und zeigten mir die Anlage der Wohnsiedlung. Es gab ein Gemeinschaftshaus mit einem großen Raum, in dem eine Tischtennisplatte und ein Billardtisch stand. Dieser erwies sich als der wahre Grund für die Führung. Sie wollten mit mir Billard spielen. Einige Spiele machte ich gerne mit ihnen, bevor ich mich zurückzog, um mich mit dem Fahrrad zu beschäftigen.
Nach Mittagessen in der Bergarbeitersiedlung gegenüber und einer Siesta setzte ich die Radwartung fort. Dabei verletzte ich meinen rechten Zeigefinger ziemlich schwer im Kettenblatt. Die beiden Wächter, die nicht weit entfernt waren, halfen mir die stark blutende, tiefe Wunde zu versorgen. Als ich die Radwartung beendet hatte, löste ich trotz des verletzten Fingers mein Versprechen vom Vormittag ein, nochmal mit ihnen Billard zu spielen, zumal es wieder zu regnen begonnen hatte. Die Regeln der Peruaner waren mir genauso fremd, wie ihnen meine. Wir spielten abwechselnd nach beiden Varianten.
Nach Einbruch der Dunkelheit, aß ich im selben Restaurant, wie an Tag zuvor, aber es war weniger los, so daß ich bald nach dem Essen zu den Wächtern zurückging, um mich noch ein wenig zu unterhalten, bevor ich meine Vorbereitungen für den nächsten Tag traf.
Der Anticona-Paß
Das Essen vom Vorabend erwies sich als verdauungsfeindlich und zwang mich einige Male in der Nacht auf die Toilette. Daher stand ich erst etwas später auf. Nach dem Frühstück, als ich bereits das Fahrrad vollständig gepackt hatte, stellte ich fest, daß ich am Vorderrad einen Plattfuß hatte. Obwohl mir die beiden Wächter zur Hand gingen, wurde es fast halb zehn, bis ich endlich auf der Straße war. Die Verdauungsschwierigkeiten der Nacht und die Unterbrechungen des Schlafs sorgten dafür, daß ich mich nicht sehr wohl fühlte. Hinzu kam Höhe.
Ich fuhr die Strecke bis Casapallca, die ich bereits kannte, noch recht gut. Dahinter stieg die Straße nicht mehr ganz so steil an und während ich auf den vor mir liegenden Berg zu fuhr, sah ich die Straße, die sich um diesen Berg herum immer höher schlängelte. Im Tal zur Rechten sah ich die Mine und darauffolgend eine weitere Arbeitersiedlung. An der Straße waren immer wieder kleine Schreine, wie sie in allen von mir bereisten Länder üblich waren, die an die Opfer von Verkehrsunfällen erinnern sollten. Während ich mich die Straße hochquälte, hatte ich Zeit, mir die Inschriften durchzulesen. Auf einem der Schreine stand tatsächlich: "Er war ein schlechter Fahrer, zeit seines Lebens".
Ich hatte die Hoffnung, daß die Straße hinter dem Berg weniger steil wurde, aber, als ich den Berg herumgefahren war, fand ich mich in einem Hochtal, an dessen Ende ich steile Serpentinen durch den Dunst und den Nebel sah. Wenn dieser aufriß, konnte ich das überwältigende Panorama der umgebenden Bergkulisse sehen. Die weit über fünftausend Meter hohen Berge hatten schneebedeckte Gipfel. Darunter war entweder der nackte Fels, meist Vulkanite, oder, wenn es weniger steil war, Grasflächen.
Mit etwa sechs Stundenkilometern – ich kann gar nicht oft genug auf meine gut fünfundvierzig Kilogramm Gepäck hinweisen – quälte ich mich am Ende des Hochtals, immer wieder von kürzeren Regen- und Hagelschauern getroffen, die Hügel hinauf, von denen ich immer hoffte, es würden die letzten sein, vor dem Anticona-Paß. Auch wegen der Höhe, die mir Kopfschmerzen verursachte, mußte ich immer wieder anhalten, um zu verschnaufen. Gelegentlich aß ich ein wenig von meinen mitgebrachten Vorräten, denn hier durfte mich die Kraft nicht verlassen. Nach fünfundzwanzig äußerst harten Kilometern, beim Kilometerstein 132 verflachte die Straße und bald darauf sah ich einige Häuser, Ticlio, und einen Parkplatz.
Ich konnte es kaum glauben: ich hatte es tatsächlich geschafft! Etwa fünf Stunden, mit Pausen, hatte ich von Bellavista hierher gebraucht. Ein paar Meter weg von den Häusern, stieg ich mit schmerzenden Muskeln vom Fahrrad, um die dünne Luft in meine Lungen zu pumpen. Nach einigen Minuten hatte ich mich soweit erholt, daß ich mir mit eiskalten Fingern eine Kippe wickeln konnte. Dabei sah ich das Schild, auf dem in Spanisch stand, daß ich mich hier neben der höchsten Einbahnstrecke der Welt befand: 4818 Meter. Höher als der Mont Blanc! Ich war allerdings zu erschöpft, um mich gebührend freuen zu können. Mit dem olivgrünen Filzhut auf dem Kopf und dem ecuadorianischen Poncho über den Schultern, das Fahrrad in der Hand, wäre dieses Foto, wenn ich denn eine Kamera mitgenommen hätte, neben dem Schild, legendär geworden.
Immer noch von der Höhe benommen, stieg ich aufs Fahrrad, um die vierzig Kilometer lange Abfahrt nach La Oroya zu machen. Es gab einige kurze Anstiege, aber wegen der Kälte war ich froh, gelegentlich etwas Bewegung zu haben, um nicht ganz einzufrieren. Hier war das Wetter besser, so daß ich die Aussicht geniessen konnte. Vorbei an einem See und einer großen Mine, fuhr ich über tausend Meter hinab nach La Oroya.
La Oroya
Gegen dreiviertel fünf, nach gut anderthalb Stunden erreichte ich das ätzende Kaff. Minenort und Verkehrsknotenpunkt, aber sonst konnte ich nichts Positives über den etwa vierzigtausend-Einwohner-Ort sagen. Ich machte mich sofort auf die Suche nach den Hotels, die ich im Reiseführer gefunden hatte. Die extrem langgestreckte Stadt war eben deswegen recht überschaubar.
Ich fragte mich zu den entsprechenden Straßen durch und sah mir die beiden nebeneinanderliegenden Hotels an. Im ersten war man radunfreundlich und in zweiten glaubte man Preise nehmen zu können, wie in Lima. Nicht mit mir. Ich fuhr weiter und fand schließlich eine primitive Unterkunft, die jedoch preiswert war. Dem Gebäude war anzusehen, daß es einmal recht ansehnlich gewesen sein mußte, aber der Glanz vergangener Tage, von dem eine Urkunde an der Wand zeugte, war lange vorbei. Der Großvater, der in den frühen Sechzigern mit dem Preis des besten Hotels ausgezeichnet worden war, war den Enkelinnen gewichen, die es versäumt hatten, die Einnahmen in die Renovierung und Erhaltung zu stecken. Dafür ließ ich sie Klo und Dusche, die leider nicht im Zimmer waren, nochmals reinigen, bevor ich mich entschloß, die Nacht hier zu verbringen.
Die beiden netten jungen Frauen konnten mir nach der Dusche, die wieder einen der lebensgefährlichen Durchlauferhitzerduschkopf hatte, ein in der Nähe der Ortsmitte liegendes Restaurant empfehlen. Ich mußte mit dem Sammeltaxi ins Zentrum fahren, wo ich nach einigem Suchen doch ein nur eher mäßiges Restaurant auftat. Ich kehrte ins Hotel zurück, holte mir ein letztes Bier in der tienda nebenan und zog mich auf mein einfaches Zimmer zurück. Zum Schreiben fehlte mir die Kraft und ich ging früh zu Bett.