Tagebuch
49. Chimbote
Wieder auf der Panamerikana
Nachdem ich, wie üblich, morgens eine Stunde zur Vorbereitung der Abfahrt brauchte, saß ich um Viertel acht beim Frühstück vor meinem Zimmer und unterhielt mich mit Solange, die gekommen war, um mich zu verabschieden. Die anderen Gäste, mit denen ich am Vorabend gefeiert hatte, waren natürlich noch nicht aufgestanden. Gegen halb acht war ich auf der Straße, die zwischen dem als gefährlich eingestuften Strand von Buenos Aires und den westlichen Stadtbezirken Trujillos nach Süden führte. Im dichten garúa, in dem ich höchstens fünfzig Meter weit sehen konnte, hatte ich weniger Sorgen wegen eines Raubüberfalls – ich sah stellenweise die verschlafenen Hütten –, als mehr wegen unaufmerksamer LKW-Fahrer, die mich zu spät entdecken könnten, um auszuweichen.
In dieser ersten Stunde des Nebels hätte ich an meiner Brille einen Scheibenwischer gebraucht, weil sich daran fortgesetzt die Feuchtigkeit niederschlug. Die Vorteile der Witterung waren eine anhaltende Kühle, die ich zum Radfahren als sehr angenehm empfand und der Mangel an Wind, was mich gut vorankommen ließ. Als sich der Nebel lichtete, war ich nach fast fünfundzwanzig Kilometern erst am Südrand Trujillos, wo die Umgehungsstraße mit einem großen, unsinnigen Umweg auf die nach Süden führende Panamerikana traf.
Bald darauf begann ein sechs oder sieben Kilometer langer Aufstieg, den der inzwischen wieder einsetzende Südwind auch nicht angenehmer machte. Ich empfand die Fahrt, die hier wieder durch die Wüste ging, und die andere als eintönig beschrieben hatten, deswegen interessant, weil sie mir die Sedimente, aus denen die Berge hier bestehen, offenbarte. Mit meinen geologischen Betrachtungen zu den Sandsteinen vertrieb ich mir die Zeit des Aufstiegs. Oben angekommen, hielt ich an, um den hervorragenden Ausblick auf das Meer, Trujillo und seinen etwas außerhalb liegenden Hafen mit ein- und ausfahrenden Handelsschiffen zu genießen.
Die Panamerikana führte eher flach ansteigend an einem gerade laufenden Bewässerungsprojekt vorbei, dessen Ausführungsqualität mir höher, als gewohnt zu sein schien. Die sich anschließende Hochfläche war nicht sehr ausgedehnt, aber dafür wellig. Eine ebenfalls nicht sehr ausgedehnte Abfahrt führte aber tief genug, um erneut fünf Kilometer bergauf zu müssen. Nach einer kleinen Hochfläche fuhr ich entlang der Küste durch bewässerte Großbauernhöfe. In einigen wurde zu meiner Überraschung Spargel angebaut. Später erfuhr ich, daß es sich um grünen Spargel handelte, der hauptsächlich nach Nordamerika exportiert wird. Da ich selbst aus einer Spargelregion stamme, sah ich sofort, daß der feine Sand und die pralle Sonne ideale Bedingungen für den Spargelbau darstellten, jedenfalls dann, wenn der fehlende Niederschlag durch künstliche Bewässerung ausgeglichen wurde. Hinter diesen haciendas erkannte ich den Strand. Beim Kilometerstein 527, gemessen von Lima aus, sah ich eine der schönsten Buchten an der peruanischen Küste. Sie war von einem halb versunkenen Berg von der Strömung geschützt und weit und breit schien hier niemand zu sein. Auch die bewässerten Felder reichten nicht bis an die Bucht.
Da sich auf diesem Streckenabschnitt die Versorgungsmöglichkeiten sehr in Grenzen hielten und die Etappe lang war, bin ich einen kleinen Vorort von Virú Mittagessen gegangen. Im einzigen Restaurant gab’s aber kein Bier und das Mädchen, sich hier um die Gäste kümmerte, war offenbar allein, so daß ich selbst in die benachbarte tienda gehen mußte, um mir eine Literflasche Bier zu kaufen, die ich im Restaurant trank, während ich auf das Essen wartete. Beim Rübergehen haben mich einige Jungs aus dem Dorf beobachtet, die mir später beim Essen Gesellschaft leisteten. Wir unterhielten uns über die hier betriebene Landwirtschaft und speziell über die Spargel, von denen sie überrascht waren, daß sie auch in Deutschland wachsen. Sie hatten, wahrscheinlich auf einem der Felder gestohlen, eine riesige Wassermelone, von der sie mir mit meiner Machete ein Achtel zum Nachtisch abgaben. Allerdings nicht ganz uneigennützig, da sie versuchten mich anzubetteln. Ich gab zwei der hartnäckigsten Kinder einen Sol, was sechzig Pfennigen entspricht und ließ sie die Flasche in die tienda zurückbringen, was jedem einen weiteren Sol einbrachte.
Virú
Nur wenige Kilometer später hielt ich an der Straße, weil dort zwei Bullen vor ihrem Fahrzeug standen. Wir unterhielten uns gut und sie nannten mir ein Hotel in Virú, bevor ich nach etwa einer Viertel Stunde weiterfuhr. Bald darauf war ich in Puente Virú, der Brücke über den gleichnamigen Fluß. Dieser Ort war eher eine Ansammlung von Dienstleistungen für Durchreisende, denn ein wirkliches Dorf. Die letzten fast fünf Kilometer zum eigentlichen Virú zogen sich ziemlich hin und ich stärkte mich mit einem schnellen Bier in einem Restaurant, von dem ich mich fragte, wieso es zwischen den beiden Orten, die beide über ausreichend Gaststätten verfügten, überleben konnte. Hier traf ich wieder zwei Bullen, die mir nochmal den Weg zum Hotel beschrieben.
Als ich endlich zur Ortsmitte kam, mußte ich mich, am Markt vorbei, erst mal orientieren, fand aber das empfohlene Hotel schnell. Allerdings war da niemand am Empfang. Während ich wartete, es waren immerhin zehn Minuten, warf ich eine Blick ins Gästebuch, das offen auf dem Tisch lag. Damit hatte ich bereits einen guten Eindruck von den hier üblichen Preisen gewonnen. Nicht, daß ich damit gerechnet hätte, genauso billig, wie die, die hier aufgeführt waren, zu logieren, aber mehr, als das Doppelte, brachte mich in Rage. Dem Rezeptionisten war die Verzweiflung in der Stimme anzuhören, als mir nachrief, es seien doch keine Dollar sondern Soles, die er verlangte. Ich sagte ihm nur kalt, daß ich es auch nicht gewohnt sei, in Dollar zu rechnen. Da er aber nicht den Preis runterging, fuhr ich zurück nach Puente Virú.
Hier fand ich in einer tienda, eine ältere Frau, die mir erklärte, welche Pensionen es hier gäbe. Ich fuhr zu der als Besten deklarierten und quartierte mich trotz des Gemeinschaftsbads, das allerdings, genau, wie das sehr einfache Zimmer, einen sauberen Eindruck machte, hier ein. Dazu paßte der stets bemühte Eindruck, den ich von der ganzen Wirtsfamilie hatte.
Nach Dusche und Siesta lief mir Carlos, der Sohn des Hauses, nochmals über den Weg und wir führten eine Unterhaltung in deren Verlauf ich einen relativ hohen Bildungsgrad bei dem Mittzwanziger feststellte. Er bestätigte mir, daß es hier nichts Interessantes zu sehen gibt. So lief ich zur Brücke, sah mir den Fluß an und genoß den Blick auf die Berge. Anschließend trank ich ein Bier in der tienda, in der mir die Besitzerin die posada empfohlen hatte. Vor dem Laden verwickelte sie mich in ein Gespräch über meine Reiseerfahrungen. Da es immer noch zu früh zum Abendessen war, bin ich ein weiteres Restaurant, um ein Bier zu trinken. Hier fand ich eine Perukarte, immerhin von 1996, auf der die Departments mit Hauptstädten, Einwohnerzahl und Flächegröße sowie die Länge der wichtigsten Flüsse verzeichnet waren.
Auch, weil ich keinen übermäßig guten Eindruck von den Restaurant hatte, bin ich zurück auf mein Zimmer, um meine Ausrüstung zu kontrollieren. Als es dunkel wurde, bin ich zum Abendessen in das Restaurant der Pension. Das Essen war zwar gut und billig, aber dadurch, daß die Portion recht klein war und ich eine zweite essen mußte, kam ich nicht billiger weg, als sonst. Weil das Restaurant offenbar sein Hauptgeschäft zu Mittag hatte, konnte Carlos die Gelegenheit nutzen, sich noch eine Weile mit mir zu unterhalten, was ich dem schlechten Programm, das im Fernseher des Gastraums lief, vorzog. Einerseits war er wißbegierig und ich antwortete ihm recht ausführlich auf seine Fragen, die meist naturwissenschaftliche Themen betrafen. Andererseits wollte ich mich über den anstehenden Weg informieren. Schließlich zog ich mich an den Schreibtisch, der oben, vor den Zimmern stand, zurück, um mein Tagebuch zu führen.
Ich war fast fertig, als sich ein Pensionsgast zu mir gesellte. Er erzählte mir mehr von seinem Land, als ich behalten konnte, über die Landesnatur, die Spezialitäten, die die einzelnen Regionen hervorbrachten, die Menschen, denn bisher hatte ich ja fast nur Küstenbewohner getroffen. Er war Ingenieur und erklärte mir nebenbei, wieso ich von dem Bewässerungsprojekt vom Vormittag einen so guten Eindruck gewonnen hatte: er hatte mit deutschen Ingenieuren zusammen an dem Projekt gearbeitet. Über dem anregenden Gespräch hatte ich fast die Zeit vergessen, so daß ich später, als geplant ins Bett kam.
In der Küstenwüste
Da ich nicht nur spät ins Bett gekommen war, sondern auch schlecht geschlafen hatte, kam ich erst nach acht aus Puente Virú raus. Ohne, daß ich hätte sagen können, wieso, fühlte ich mich nicht gut. Ich fuhr durch die Küstenwüste, die hier seltener bewässert war. Etwa beim Kilometerstein 473, kurz vor einem schon von weitem sichtbaren Aufstieg über einen Berg, der sich aus der sandigen Wüste erhob, setzte ich mich, nach gut fünfunddreißig Kilometern an diesem Tag, an einen Steg am Straßenrand, um zu verschnaufen. Auch nachdem ich gegessen und getrunken hatte, fühlte ich mich nicht wirklich besser. Allerdings konnte ich in der Wüste nicht bleiben, denn die Hitze wurde zunehmend stärker.
Während ich mich noch für den nächsten Streckenabschnitt zu motivieren versuchte, hielt ein LKW und der Fahrer sprang heraus und fragte, ob er mich mitnehmen könne. Allerdings nur bis Chimbote. Das war auch mein Etappenziel und nach einigem Zögern nahm ich wegen meiner angeschlagenen Gesundheit sein Angebot an. Nachdem wir das Fahrrad auf fast drei Meter hoch gestapelte Plastiksäcke mit Fischmehl gehievt hatten, setzte ich mich zu ihm in die Fahrerkabine. Beim Aufladen hatte uns ein etwa zwanzigjähriger Mann geholfen, der auf der Ladung gesessen hatte. Der Fahrer bemerkte meinen skeptischen Blick und sagte, daß das Fahrrad sicher sei. Später erzählte er mir, er bezahlte den jungen Mann dafür, daß er während der Fahrt und vor allem im Hafen beim Abladen darauf achtete, daß nichts gestohlen würde. Bei der Weiterfahrt wurde mir schnell der Eigennutz des Fahrers klar: Etwas Unterhaltung auf dem Weg durch die Wüste. Wegen des Fischmehls hatte ich anfangs Bedenken, aber der Südwind, gegen den wir anfuhren, sorgte für gute Luft in der Fahrerkabine.
Wir fuhren über den Paß bei vierhundertsiebzig Kilometern vor Lima und danach noch weitere zwanzig Kilometer, bis wir wieder auf Grün und menschliche Siedlungen trafen. Nach dem harten Aufstieg hätte ich des Windes wegen die Abfahrt kaum zum Ausruhen verwenden können. Und selbst, wenn ich diese ersten Hütten, unter denen immerhin auch Restaurants waren, noch erreicht hätte, eine Übernachtungsmöglichkeit, hätte ich hier kaum gefunden. Von da ab waren es nochmal etwa fünfzehn Kilometer bis nach Chimbote. Da der Mann seine Strecke gut kannte, konnte er mir einiges zu den Menschen und der Landschaft erzählen und einige Gebäude, deren Sinn mir auf Anhieb nicht klar war, erläutern.
An einer Tankstelle standen zwei Polizisten, die offenbar ihr Gehalt aufbessern wollten. Sie fragten den Fahrer nach den Papieren und obwohl sie an ihnen nichts auszusetzen fanden, versuchten sie Geld aus ihm herauszupressen. Er war allerdings erfahren genug, um ihre Drohungen zu ignorieren, bis sie ihn schließlich fahren lassen mußten. Er sagte, er führe heute nur deswegen, weil ihm das Geld ausgegangen sei und seine Familie darauf wartete, daß er Geld heimbringe. Wenn er aber den Polizisten und ihrem Erpressungsversuch nachgegeben hätte, wäre für seine Kinder nicht mehr genug übrig.
Heute fast ein Staddteil Chimbotes, war Santa, oder korrekter Santa Maria de la Parilla, schon dreimal verlegt worden, als Alexander von Humboldt am 10. und 11. Oktober 1802 hier war. Bei einem Ausritt in der Umgebung fand er riesige Mengen menschlicher Knochen, von denen einige noch mumifizierte Hautteile besaßen über viele Quadratkilometer verstreut. "Diese Provinz Santa, ... , verdankt ihren Bevölkerungsmangel nicht der Grausamkeit der Spanier, sondern der des Inca, der durch bedeutenden Widerstand, den ihm der König Chimún-Cauchu leistete, so erzürnt wurde, daß er erbarmungslos fast alle Einwanderer umbrachte, die Städte vernichtete, die Kanäle zerstörte, die Felder verwüstete". Da er zwischen den Zähnen der Totenschädel Kupfer und Silber entseckte, werden die huaqueros das gesamte Areal mehrfach umgepflügt haben, um die Metalle zu bergen. Ich habe jedenfalls keinen Hinweis auf ein großes Knochenfeld erhalten, als ich in der Gegend war.
Als ich mich im LKW Santa annährte, nahm mir der Gestank der Fischmehlfabriken, die die Landschaft verunzierten, fast den Atem. Nach der harten Etappe und dem angeschlagenen Magen hätte ich denselben sicher spontan entleert.
Chimbote
Kurz darauf, am Ortseingang Chimbotes, ließ mich der Fahrer raus, nicht ohne mich aufzufordern, mich zu vergewissern, daß meine Ausrüstung komplett war und fuhr nach der herzlichen Verabschiedung verbunden mit einer Warnung vor der Stadt, zum Hafen. Ich stand noch ein paar Minuten am Straßenrand, um mich mittels des Stadtplans im Reiseführer zu orientieren und mir einen günstigen Weg zum Hotel zu suchen. Im Hotel, das mich nicht überzeugte, und sich später als laut herausstellte, bestand ich, bevor ich das Zimmer nahm, mal wieder auf einer Reinigung besonders des Bads, bevor ich einzog.
Nach Dusche, Mittagessen und Siesta erkundete ich die Stadt. Auch der Reiseführer hatte mich in der immerhin dreihunderttausend Einwohner zählenden Stadt vor Überfällen gewarnt. Im Zentrum, wo ich mich aufhielt, hätte ich allerdings nicht sagen können, daß es mir irgendwie gefährlich vorkam. Chimbote ist ein Industrieort, der vor dreißig Jahren noch ein kleiner Fischerort gewesen war, aber durch die Verschiffung von Fischmehl und Rohöl sowie die Verarbeitung von Eisenerz, begünstigt von Landflucht und hohen Geburtenraten, schnell gewachsen war. Wegen der sozialen Schieflage, die den Ruf der Gefährlichkeit begründet hat, offenbar zu schnell. Da die Stadt 1970 von einem Erdbeben heimgesucht worden war, gibt es praktisch keine sehenswerten Gebäude.
So lief ich über den schön gestalteten Waffenplatz zum Hafenbecken. Eines der wenigen natürlichen Hafenbecken Perus, das von halbversunkenen Bergen des Küstengebirges eingerahmt ist. Der Blick war ziemlich imposant, möglicherweise auch deswegen, weil gerade die Sonne unterging. Unterstrichen wurde er noch durch die Vielzahl der Schiffe, die ich sah, ganz im Gegensatz zu Trujillo, wo vielleicht eine Handvoll Frachter vor Anker lagen. Störend war lediglich der trotz des Südwinds zu verspürende leichte Fischgeruch, der offenbar immer über der Stadt zu liegen schien.
Alexander von Humboldt findet: „Das ist der schönste Hafen, den es von Kap Horn bis Guayaquil gibt, ein Hafen der, ähnlich wie Toulon alle Flotten der Welt aufnehmen kann“. Er fand ihn in seiner Literatur unter dem Namen Puerto del Ferrol, ich habe das riesige Firmenschild Sideroperu gelesen. Der alte Name leitet sich vom lateinischen ferro, der Firmenname vom griechischen sideros her, was beides Eisen bedeutet. Neben der Fischerei, von der Humboldt im Zusammenhang mit den Chimú berichtet, war die Erzverladung seit der Eroberung ein wichtiger Geschäftszweig.
Die Chifa, ein chinesisch-peruanisches Restaurant, die unter dem Hotel liegt, kam mir erheblich besser vor, als die Übernachtungsmöglichkeit. Nach dem Essen lief ich zu einem Internet, das ich bei meinem Rundgang entdeckt hatte, um meine Freunde und Verwandten über den neuesten Stand der Dinge zu informieren. Auch auf dem Rückweg ins Hotel gegen halb zehn, deutete nichts auf eine besondere Gefährdung hin. Mit einem letzten Bier schrieb ich in mein Tagebuch und bereitete mich auf die nächste Etappe vor.
Gut erholt und einigermaßen früh fuhr ich durch den morgendlichen Berufsverkehr durch Chimbote, um ein Frühstück zu finden. Als ich endlich einen Laden gefunden hatte, der bereits offen war, stellte sich heraus, daß die Snackbar nichts hatte, was mir zusagte. Also fuhr ich weiter, bis ich nach etwa einer dreiviertel Stunde eine Raststätte an der Panamerikana fand. Nach einem Steak, setzte ich die Fahrt durch die Wüste fort.
Casma
Weil das Küstengebirge hier nah ans Meer heranreicht, sah ich schon von weitem den Anstieg auf mich zukommen. Es waren drei Pässe kurz hintereinander, bei den Kilometersteinen 410, 400 und 393, von denen der erste der schwierigste war. Die Landschaft hier war durch die Bergrücken, deren Südflanken vom angewehten Sand des Strandes bedeckt waren, geprägt. Oben auf den Pässen konnte ich einen hervorragenden Blick aufs Meer genießen. Endlich stand ich auf dem letzten der drei Hügel und sah eine relativ ebene Strecke vor mir. Meine Hoffnung, es würde einfacher, erwies sich aber des Windes wegen, der in den Lücken des Gebirges besonders heftig war, als trügerisch. Trotzdem konnte ich einen Schnitt von rund zwanzig Kilometern in der Stunde halten. Unter diesen Bedingungen war ich mit meiner Leistung sehr zufrieden. Vor Casma war wieder bewässert und ich gelangte durch eine grüne Kulturlandschaft zu meinem Tagesziel.
Die Stadt der ewigen Sonne, wie Casma wegen der ungewöhnlich vielen Sonnenstunden genannt wird, war zwar ebenso, wie Chimbote 1970 bei dem Erdbeben zerstört, aber, wie ich fand, schöner wiederaufgebaut worden. Casma hat im Gegensatz zur Hafenstadt Chimbote nur zwischen zehn- und zwanzigtausend Einwohner. Dem etwas ländlichen Charakter ist wohl auch das Schild am Ortseingang, über das ich mich etwas wunderte, zuzuschreiben. Darauf forderte das Gesundheitsministerium zum Händewaschen auf.
Mit dem kleinen Plan im Führer fuhr ich zum teuersten Hotel der Stadt. Eine schöne große Ferienanlage mit Schwimmbecken und Gartenanlagen. Beim Betreten war der Rezeptionist mit anderen Gästen beschäftigt, so daß ich die Preisliste studieren konnte. Vierzig Mark war mir aber zu teuer, so daß ich wieder kehrt machte und den Empfangsraum verlies. Nachdem ich mich gegenüber den Rufen des Rezeptionisten taub gestellt hatte, kam er mir nachgelaufen. Es gäbe auch billigere Zimmer. Zum halben Preis, wurden wir uns einig.
Das Zimmer war sehr sauber, das Bad hatte warmes Wasser, es gab Fernseher und Ventilator. Ich war zufrieden und checkte wegen des günstigen Zwischensaisonpreises ein. Nach der ersten warmen Dusche seit langer Zeit bin ich zum hoteleigenen Restaurant im großzügig angelegten Gartenpark. Das Essen war zwar gut, aber hier gab es keinen Preisnachlaß. Nach der Siesta habe ich die Wäsche in Auftrag gegeben und mich über die Archäologie der Gegend anhand von Aushängen im Hotel informiert. Der Rezeptionist versprach mir, am Abend einen Führer vorbeizuschicken, der mir die Umgebung zeigen sollte.
Anschließend suchte ich in der Nähe eine tienda und sah mir den Ort etwas genauer an. Der Ort ist zwar nichts besonderes, aber er gefiel mir. Als es zu dunkeln begann, bin ich zu einem Restaurant gelaufen, das im Führer empfohlen ist. Der Name, Tio Sam, tio heißt Onkel, schreckte mich zwar etwas ab, aber das Essen war hervorragend und die Portion gigantisch. Ich kehrte ins Hotel zurück und setzte mich mit dem Reiseführer in einen Pavillon im Garten beim Restaurant und trank ein Bier. Schließlich tauchte ein kleiner Mann Mitte Vierzig auf, der sich als Alejandro, mein Führer für den nächsten Tag, vorstellte. Er wollte knapp dreizehn Mark für den geplanten Vormittagsausflug. Dazu käme noch das Geld für ein moto, das wir zum Transport bräuchten. Er erzählte, daß er früher als Führer im Museum von Sechín gearbeitet hatte und versicherte glaubhaft, die Umgebung gut zu kennen. So wurden wir uns einig, daß er mich am nächsten Tag um acht Uhr abholen sollte.
Sechín
Etwas verspätet tauchte Alejandro auf, weil er Schwierigkeiten gehabt hatte, ein Fahrzeug zu finden. Orlando, der Aushilfsfahrer, kostete mich fast zwölf Mark, weil er sich das Fahrzeug selbst hatte ausleihen müssen. Schließlich fuhren wir zum Kilometerstein 14 der Straße nach Huaraz. Der Blick auf die Cordillera Negra, die sich zwischen der Küste und der bekannteren Cordillera Blanca (das schwarze und das weiße Gebirge) erhob, war beeindruckend. Wir ließen Orlando beim moto warten und marschierten auf einen der Vorhügel. Der Weg war zumindest in geologischer Hinsicht bereits die Anfahrt wert: grünliche Peridotite, metamorphe Granite und Schiefer sowie Marmor prägten die fast vegetationslose Landschaft. Und alle natürlich hier – nahe der Subduktionszone – wunderbar deformiert. Die Gegend ist sicher eine nähere Untersuchung wert. Der Führer hat auf dem Weg zum Aussichtshügel von mir noch was über die Geologie seiner Heimat gelernt.
Auf dem Hügel konnte ich an der Flanke eines Nachbarhügels die Petroglyphen, wegen denen ich hier war, erkennen. Aus Konservierungsgründen durften wir uns nicht weiter nähren. Die Felszeichnungen sind weniger groß und aufregend, als die in Nazca, aber dafür älter. Die Linien selbst sollen bis dreiundzwanzig Zentimeter tief in den Boden gegraben sein. Sie zeigen eine humanoide Figur mit einem Stab in der Hand, Sonne, Mond, Jaguar/Puma, Fisch und einem hier in Peru heimischen ziemlich nackten Hund, der Rest der Felszeichnungen auf dem Hang eines Hügels vor der Sierra Negra war Opfer der Erosion geworden. Ich muß zugeben, daß ich die beste Aussicht am Modell im Museum, das wir später besuchten, hatte. Bei den fast zweieinhalbtausend Jahre alten Geoglyphen war allerdings nur Wüste, die von Fuchsspuren und Regenrinnen durchzogen war. Regen gibt’s nur etwa alle drei Jahre, aber dann heftig.
Auf dem Rückweg zu Orlando und seinem moto bedauerte ich einmal mehr, auf dem Fahrrad keine Gesteinsproben mitnehmen zu können. Bei etwa sechzig Stundenkilometern kehrten wir bald in die Agrarzone um Casma zurück, wo mich Alejandro auf Sechin Alto aufmerksam machte. Da die beiden Steinpyramiden noch nicht ausgegraben waren, gab es entsprechend wenig zu sehen, so daß wir weiterfuhren.
Am, mal wieder nach Max Uhle benannten, Museum von Sechín hielten wir und ich ging mit Alejandro hinein. Hier befanden sich auf zwei Ebenen die Artefakte oder Replikate derselben, die hier gefunden wurden. So wurden beispielsweise die Nachbildungen von weit über dreitausend Jahren alten Fußspuren gezeigt. Die Webtechniken waren hier schon frühzeitig hochentwickelt. Dazu etwas Keramik und Gebrauchsgegenstände, deren Funktion und Herkunft der Führer gut erklärte. Beeindruckend fand ich die Mumie einer jungen Frau, die durch einen Dreißig-Kilo-Stein auf dem Bauch zu Opferzwecken erstickt worden war. Neben den Modellen zweier in der Nähe gelegener Ruinenstätten konnte ich die vorher gesehenen Geoglyphen deutlicher anhand eines Modells erkennen. Über allem prangten die Replikate der im Lehmziegeltempel hier gefundenen großen farbigen Darstellungen von Fischen und Feliden, denn der Tempel selbst ist nicht zugänglich.
Wieder draußen, liefen wir durch den Johannisbrotbaumhain, der zum Picknick einlud, zu dem Tempel, um den vor etwa dreieinhalbtausend Jahren die Sechín ihre gewaltigen Granitplatten gestellt hatten, um ihren Sieg gegen die nicht näher zu definierende Präkeramiker-Kultur, die den Lehmziegeltempel errichtet hatte, zu dokumentieren. In die fünf Meter hohen, bis zu einem halben Meter dicken Blöcke waren Sechín-Krieger und ihr Anführer eingemeißelt. Darum herum waren abgeschlagene Gliedmaßen und Köpfe, ausgestochene Augen, Rückenwirbelsegmente und hervorquellendes Gedärm angeordnet. Teilweise wurde das ausfließende Blut dargestellt. Die Anordnung läßt darauf schließen, daß jedem der Krieger, die hier abgebildet sind, einige erschlagene Gegner zuzuordnen sind. Denn daran, daß sie erschlagen wurden, besteht deswegen kein Zweifel, weil die Sechínkrieger ausschließlich mit Streitkolben bewaffnet waren. Die dargestellten Verstümmelungen müssen nachträglich vorgenommen worden sein.
Alejandro überstieg die Absperrung und erklärte mir die Bedeutung, dessen, was auf den Platten dargestellt war sehr ausführlich. Die Platten dienten offenbar dazu, den Tempel, dessen zweiter Stock leider völlig fehlt, abzusperren. Offenbar hatten den Sechín die Riten, die sich vorher hier abgespielt hatten, überhaupt nicht gefallen und sie wollten eine Wiederaufnahme um jeden Preis verhindern. Möglicherweise unterstützten sie bereits zu diesem Zeitpunkt die Chavín-Kultur, dessen sie militärischer Arm sie wurden. Daß Humboldt die Stätte nicht besuchte, liegt ausschließlich daran, daß sie erst mehr als hundertfünfzig Jahre nach seinem Besuch Südamerikas ausgegraben wurde.
Die Rückfahrt im moto, vorbei an Mangos, Guabas, südamerikanischen Pflaumen, Mais und Spargel verlief angenehm, weil Alejandro und ich das Gespräch über die Sechín übergreifend fortsetzten, nun, da ich den Gesamtüberblick hatte. Ich ließ mich in der Ortsmitte absetzen, um ein anderes Restaurant auszuprobieren. Es hatte aber an diesem Tag geschlossen, so daß Orlando mich bei Tio Sam rausließ. Ich hatte Alejandro, weil ich mit ihm zufrieden war, noch zu einem Bier einladen wollen, aber er lehnte ab.
Nach der Siesta habe ich beim Kartenstudium feststellen müssen, daß es auf dem Weg nach Lima, gut dreihundertfünfzig Kilometer, mindestens zwei Streckenabschnitte gibt, die mich zum gefährlichen Übernachten im Zelt in Panamerikana-Nähe und zum Mitführen von Nahrung und vor allem Wasser gezwungen hätten. Noch gravierender war, daß ich wieder Bargeld brauchte und die lokalen Banken meine Kreditkarte nicht akzeptieren würden. Die Chance, vor Lima eine Bank zu finden, die sich mit Auslandsgeschäften befaßte, erschien mir gleich null. Außerdem war mein Bedarf an Küstenwüste und Gegenwind gedeckt und mit dem Fahrrad wäre ich bestimmt noch eine Woche unterwegs gewesen, bis ich Lima erreicht hätte. Daher beschloß ich, einen Bus zu suchen. Es war nicht gerade einfach, obwohl es mindestens drei Unternehmen am Ort gab, die Richtung Süden fuhren. Nach einigem Hin und Her ergatterte ich einen Platz im Nachtbus, der um Mitternacht abfahren sollte.