Tagebuch
32. Quito I
Auf dem Weg in die Hauptstadt
Der Tag begann schlecht. Trotz des hohen Preises für die Übernachtung gab’s kein Frühstück. Als ich aus dem Zimmer fuhr, bemerkte ich erst den Platten am Hinterreifen, den mir die schlechte Straße vom Vortag eingebracht hatte. Mit Verspätung kam ich nach dem Schlauchwechsel auf die Panamerikana. Entlang der zerfurchten Bergkette ging’s von einem Tal ins nächste. Eine Möglichkeit, zu frühstücken fand ich auch nicht. Anstehend sah ich Sandstein, in den Gipslagen eingeschaltet waren. Höhlen zeugten vom Abbau der bis über zwei Meter mächtigen Einschaltungen.
Geregnet hat’s auch öfter: War das der Sommer auf der Südhalbkugel? Als wenn meine Laune nicht schon schlecht genug gewesen wäre, waren an einem Anstieg noch ein paar Kinder, die eine Schnur quer über die Straße gespannt hatten, um zu betteln. Da jeder Anstieg lästig ist und man auf dem Fahrrad ungern den Schwung beim Anhalten verliert, habe ich die Kinder böse angesehen und hinter mich an den Griff der Machete gefaßt. Wegen der Schnur, nicht wegen der Kinder. Die verstanden aber augenblicklich und senkten die Schnur. Der Hintergrund für ihr Verhalten, erfuhr ich später in Quito, war, daß die Jugend, eigentlich nur am einunddreißigsten Dezember, quasi legal betteln darf. Dazu gehören aber auch Kostüme, die sich diese Kinder nicht leisten konnten.
Am Abzweig nach El Quinche, um den sich einige Häuser gruppierten, hat mich der Regen überholt, als ich mich endlich gestärkt habe. Die Straßenverhältnisse änderten sich nicht, obwohl mir mehrere Leute unabhängig voneinander geraten hatten, den Weg über Pifo und nicht über Guayllabama zu nehmen, den sie für noch steiler hielten, obwohl er kürzer ist. Humboldt zu Fuß und mit Trägern benutzte ihn aber.
So fuhr ich über weitere Hügel. Für die notwendigen Brücken ist kein Geld da, weil die Ingenieure zu korrupt sind. Das Schema, hat man mir erklärt, sei, daß ein bestimmter Betrag für den Straßenbau zur Verfügung gestellt werde. Wenn der Ingenieur sein Gehalt davon abgezogen habe, würde der Rest für Materialien und Arbeiterlöhne verwandt. Dabei käme man eben soweit man käme. Und nicht weiter. Ein weiterer Grund war der, daß man ohne nachzudenken Wege aus der Kolonialzeit verwendet, ohne nach den für heutige Verkehrsmittel notwendigen Kriterien zu fragen. Daher konnte ich mich auf vielen Etappen der Reise immer wieder über die herrschenden Straßenverhältnisse aufregen.
Da man mir von El Quinche als Einquartierungsort mehrfach abgeraten hatte, bin ich durch den Ort hindurchgefahren. Kurz danach mußte ich meinen Hinterradschlauch flicken, weil Ecuador offenbar die größten Umweltschweine hat. Ich habe nirgendwo soviel Bruchglas von aus den Fahrzeugen geworfenen Flaschen gefunden, wie in diesem Land! Irgendwann erreichte ich den nächsten Ort, Checa. Hier gäbe es keine Übernachtungsmöglichkeit und vor Quito wußte auch keiner eine Pension. Nach einem Grillteller, bin ich nach El Quinche zurückgefahren. Eigentlich hatte ich eine andere Pension aus dem Reiseführer ausgewählt, aber die fand ich erst später zufällig. Am zentralen Platz vor der Kirche sah ich ein Schild für Zimmervermietung. Freche zehn Dollar wollte die Alte. Dafür mußte sie allerdings ein zweites Zimmer reinigen, weil im ersten die lebensgefährliche elektrische Durchlauferhitzung in der Dusche ausgefallen war.
Da es nach der Dusche für eine Siesta bereits zu spät war, habe ich mir den Ort angesehen. El Quinche wird mir wohl immer als das übelste Nest in Erinnerung bleiben, das ich auf der gesamten Reise erdulden mußte. Die einzige Ausnahme besteht in der Kirche, in der die gleichnamige Jungfrau aus dem Jahre 1600, von einem Indianer aus Oyacachi geschnitzt, Wunder vollbringt. Jedenfalls glauben das Hunderte von Leuten, die hier von positiven Ereignissen auf mehr oder weniger teuren Tafeln berichten, die an der Außenwand der Kirche befestigt sind. Die Jungfrau war eigentlich für Oyacachi bestimmt gewesen, wurde aber von den dortigen Bewohnern nicht angenommen. Das paßte zu meinen Erfahrungen dort.
Da meine Wirtin im Erdgeschoss ein scheinbar akzeptables Restaurant zu betreiben schien, bin hierher zurückgekehrt, um zu essen. Weil sie aber kein Bier ausschenkte, habe ich den Laden sofort wieder verlassen. In einem ziemlich einfachen Restaurant überzeugte ich den Wirt zwar davon, mir zuerst ein Bier zu bringen, aber dafür war sein salchipapa, Pommes mit kleingeschnittener roter Rindswurst, kaum ein Appetithappen. Schließlich fand ich einen Chinesen. Aber auch hier wollte man mir nur zwei Bier verkaufen. Schließlich fand ich eine tienda, in der ich noch ein paar Bier mit aufs Zimmer nehmen konnte, weil inzwischen auch wieder der Regen eingesetzt hatte. Diese Ungastlichkeit hat man mir erklärt, käme davon, daß es mit Wallfahrern bereits Probleme mit dem Alkohol gegeben habe. Mit diesem ungastlichen Ort konnte mich aber nichts mehr versöhnen.
Morgens konnte ich nach dem Frühstück gar nicht schnell genug diesen ätzenden Ort hinter mir lassen. Der erste Teil der Etappe verlief etwas ruhiger, als am Vortag, aber es waren immer noch genügend Schluchten bis Pifo.
Wenige Kilometer vor Pifo liegt der Ort Yaruquí. Hier in der Nähe war Humboldt auf einer Exkursion von Quito aus gewesen, weil er unbedingt die Reste eines Denkmals sehen wollte, das eine französische Expedition 1736-43 zur erstmaligen Vermessung des Äquators errichtet hatte. Die Forschungsreise, die von Charles-Marie de La Condamine und Paul Bouguer geleitet wurde, war zwar ein Erfolg, wie die späteren Veröffentlichungen der Teilnehmer zeigen, aber die Spanier und die Südamerikaner hielten von der Erdvermessung nichts, so daß Humboldt nur die zerstörten Reste der von den Franzosen errichteten Pyramiden begutachten konnte. Leider waren mir die Geschehnisse noch unbekannt, als ich dort vorbeifuhr, denn sonst hätte ich sicher den Versuch gemacht, die Ruinen zu finden.
Ab Pifo ging’s bergab, ins Tal vor dem Pichincha. Diese Hochebene ist etwa fünf Kilometer breit. In Osten liegt der Höhenzug, den ich gerade durchfahren hatte und im Westen vor mir die Ausläufer des Ilaló und die beiden Pichinchas, zwischen denen sich die Millionenstadt Quito erstrecken sollte. Zu sehen war davon am Beginn der Abfahrt von Pifo nur wenig. Durch den dichter werdenden Verkehr und das Tal fuhr ich nach Cumbayá. Am Ortsausgang, vor dem Anstieg, habe ich in einer Raststätte an der inzwischen vierspurig gewordenen Straße ein Bier getrunken. Hinter einem Nest namens Tumaco war’s kräftig steil. Weil so kurz vor der Hauptstadt keine Möglichkeit bestand, zu essen und zu trinken, wäre ich fast nicht hochgekommen. Ich stand ziemlich ausgepumpt am Straßenrand, als auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Geländewagen hielt und eine US-Amerikanerin mich nach meinem Gesundheitszustand fragte. Ich antwortete auf Spanisch, daß alles in Ordnung sei. Auch ihre hartnäckige Nachfrage beschied ich so.
Nachdem ich mich wieder etwas erholt hatte, setzte ich den Aufstieg fort. Als die Straße etwas flacher und besser ausgebaut wurde, erwartete mich die nächste unangenehme Überraschung. Die Straße, die ich ursprünglich benutzen wollte, war gesperrt. Die Alternative hätte mich nördlich um den Berg geführt, wo ich doch eigentlich nach Süden wollte. Außerdem sah ich den Höhengewinn, der für mich ebenfalls nicht mehr hinnehmbar war. Also entschloß ich mich, eiskalt quer über die an ein Autobahnkleeblatt erinnernde Kreuzung zu fahren und die Absperrung dahinter zu umgehen. Das Manöver lohnte sich weil, der Weg kürzer und, vor allem, weil die Straße relativ eben war.
Einige Häuser entlang der Straße, entweder an die Felswand zur Rechten gelehnt, oder über der Schlucht links hängend, waren, wie Müllberge bewiesen, immer noch bewohnt. Die Menschen waren offensichtlich vergessen worden. Außen herum fuhr niemand und die alte Straße nach Quito war gekappt. Entsprechend endzeitmäßig war die Stimmung die ich antraf. Einige Kinder spielten auf der Straße und ein kleiner Hund versuchte mich zu jagen. Alles andere wirkte ziemlich trostlos.
Ankunft
Kurz vor der Einfahrt nach Quito erkannte ich den Grund für die Vollsperrung der Straße. Sie war zur Hälfte in die über hundert Meter tiefe Schlucht abgebrochen. Ich hielt mich ganz rechts und durchfuhr so die etwa zwanzig Meter lange Abbruchzone. Kurz darauf fuhr ich an einer Straßensperre mit besetzten Wachhäuschen vorbei und war unvermittelt in der Stadt an einen Kreisverkehr. Bereits nach wenigen hundert Metern fand ich ein Restaurant, wo ich mich ausgiebig stärkte.
Nachdem ich mich einigermaßen erholt hatte, fuhr ich Richtung Süden, der Altstadt entgegen, um mir ein Hotel zu suchen. Da die erste Empfehlung des Reiseführers nicht mehr existierte, beschloß ich, da es auf dem Weg lag, bei der Touristeninformation Erkundigungen einzuziehen. Ein Wächter in der Vorhalle hielt mich an und forderte mich auf, das Fahrrad stehen zu lassen. Im Hintergrund des Eingangsbereichs stellte ich es ab und sagte ihm, er hafte mit seinem Kopf für die Sicherheit des Fahrrads und der Ausrüstung. Dann betrat ich das Büro von Cetur. Hier suchte man in der von mir gewünschten Preisklasse einige Hotels aus, die ich anhand eines Stadtplans, den ich mir kaufte, verifizierte. Nachdem man dort angerufen hatte, um Preis und Belegung zu erfragen, fuhr ich zu dem empfohlenen Hotel. Acht Dollar war zwar nicht gerade billig, aber dafür war das Haus schön und die Einrichtung sehr modern. Nur das Wasser der Dusche war nicht ausreichend warm. Darüber beschwerte ich mich.
Da es für eine Siesta zu spät war, bin ich durch die als nicht ganz sicher geltende Altstadt gelaufen. Dabei fand ich einen Internetladen und nutzte die Gelegenheit für einen Bericht meines Weihnachten. Die Straßen der Altstadt scheinen immer überfüllt zu sein und überall standen Straßenverkäufer. An der Plaza de Independencia, deren umliegende Gebäude, Regierungspalast, Erzbischofpalast und Kathedrale, in der Dunkelheit, die inzwischen eingesetzt hatte, schön angestrahlt waren, fand ich ein nobles Restaurant, das Cueva del Oso, zu Deutsch Bärenhöhle, wo ich sehr gut dinierte. Allerdings war es nicht billig und die Portionen schienen mir eher für Büroarbeiter, denn für Radfahrer ausgelegt zu sein.
Ziemlich erschöpft kehrte ich ins Hotel zurück, wo ich noch Kraft zum Führen des Tagebuchs hatte, bevor mir beim letzten Bier buchstäblich die Augen zufielen.
Als das Wasser bei der morgendlichen Dusche immer noch lauwarm war, was bei Nachtemperaturen von unter zehn Grad nicht lustig ist, habe ich nach dem Frühstück, für das ich eine ganze Weile suchen musste, die Empfangsdame zu Rede gestellt. Da ihre Antworten aber nichtssagend und ablehnend waren, beschloss ich, das Hotel zu wechseln.
Vorher bin allerdings noch mit dem Taxi zu einer Bank gefahren. Während meiner ganzen Zeit in Quito habe ich bis auf ein oder zwei Ausnahmen grundsätzlich mit den Fahrern Streit über den Preis gekriegt. Auch die Rückfahrt erschien mir immer noch zu teuer, obwohl sie billiger war, als die Hinfahrt. Zurück im Hotel, habe ich gepackt und bin auf die Suche nach einem anderen Hotel gegangen. Beim ersten Versuch, behauptete man, daß man ausgebucht sei. Ich habe es nicht geglaubt. Der zweite Versuch erwies sich als besser. Nachdem ich die Wassertemperatur für ausreichend befunden hatte, bezog ich das erheblich einfachere Zimmer. Dafür zahlte ich aber nur die Hälfte. In seltenen Fällen konnte ich feststellen, daß das Hotel offensichtlich auch als Stundenhotel diente. Gestört hat mich das nicht.
Das Hotel verfügte auch über ein Restaurant. Es war eines der billigeren Art, wie ich nach dem Auspacken feststellen konnte. Das Essen war nicht schlecht, aber natürlich nicht mit dem zu vergleichen, das ich am Vorabend im Cueva del Oso genossen hatte.
Nach der Siesta erkundete ich die Umgegend des Hotels und habe meine Stamm-tienda gefunden. Es gab nicht nur einen vernünftigen Bierpreis, sondern ich stellte fest, daß es Milch und einen Kasten mit täglich frischem Süßgebäck gab. Damit war das Frühstück von nun ab gesichert. Mit dem Besitzer und zwei Biertrinkern bin ich ins Gespräch gekommen. Nachdem sie mich ein bisschen über meine Reise ausgefragt hatten, bot sich das gerade vergangene Weihnachten als Thema an.
Grundsätzlich bestehen zu deutschen Weihnachtsfeiern kaum Unterschiede. Aber der Wunsch, in Deutschland eine "weiße Weihnacht" zu erleben, stieß selbst bei den Bergbewohnern auf Unverständnis. Auch hier fand ich die weitverbreitete Meinung, daß man bereits im dritten Jahrtausend lebe. Meine Argumentation, daß es kein Jahr Null gibt und daher das neue Jahrtausend erst in drei Tagen beginnen würde, zog. Ich unterstützte meine Beweisführung zusätzlich damit, zu argumentieren, daß man den Leuten mit zwei Jubelfeiern das Geld besser aus der Tasche ziehen konnte. Das brachte die Ecuadorianer auf ihre Regierung. Die Menschen sind offenbar vernünftiger, als ihre Regierung, denn sie erkannten den hausgemachten Teil ihrer Probleme und warfen der Regierung vor, diese nicht oder nur unzureichend anzupacken. Bereits zwei Wochen später sollte ich Zeuge von Massenprotesten werden.
Der Spaziergang durch die Altstadt war jedoch in dem Gewühl, das hier scheinbar immer herrscht, nicht sehr erbaulich. Später hatte ich Schwierigkeiten, ein geeignetes Restaurant zu finden. In der näheren Umgebung des Hotels gab’s keine und das hoteleigene war nur zu Mittag geöffnet. Als ich schließlich doch fündig wurde, war ich mit dem Ergebnis der langen Suche nicht besonders zufrieden.
Das Stadtmuseum
Den Vormittag verbrachte ich im Stadtmuseum, das nur vier Straßen vom Hotel entfernt ist. Gleich am Eingang erwartete mich eine unangenehme Überraschung. Vier Dollar Eintritt für Ausländer, einer für Ecuadorianer. Das Hospital San Juan de Dios von 1565 ist allerdings bereits sehenswert. Das zweistöckige Gebäude hat zwei Innenhöfe und ist schön restauriert.
Es begann mit der Frühgeschichtsabteilung, in der Keramiken, Waffen- und Werkzeugreste der Vorgeschichte ausgestellt waren. Hier sind vor allen die Obsidiangerätschaften von El Inga erwähnenswert. An diesem mindestens zehntausend Jahre alten Fundpunkt südöstlich von Quito am Fuß des erloschenen Vulkans Ilaló wurde der Obsidian abgebaut. Er sicherte den Ureinwohnern dieser Zeit ein gutes Auskommen, da sie weiträumig Handel, erst mit den Fertigprodukten, später mit dem Rohmaterial trieben. Dieses schwarze, vulkanische Glas ist bis heute bei Chirurgen beliebt, weil die Schneiden nur sehr langsam stumpf werden.
Dazu war ein Geländemodell der Gegend aufgebaut, in dem weitere Fundorte früher Siedlungen markiert waren. Die Erklärungen dieses Saals schienen mir etwas dürftig, auch im Vergleich mit dem, was in den anderen Räumen präsentiert wurde. Anschaulich waren jedoch die lebensgroßen Puppen, die mit zeitgenössischer Kleidung und Werkzeugen versuchten, einen Eindruck vom Leben der Ureinwohner des Pichinchatals zu vermitteln. In Südamerika sind diese Puppendioramen wesentlich verbreiteter, als in Europa, wo man von den Museumsbesuchern zurecht erwarten kann, daß sie die Erklärungstafeln lesen.
Im weiteren Verlauf des Museums waren die Räume in Abteilungen eingeteilt. Je ein Jahrhundert seit der Eroberung durch die Spanier. Auch hier dominierten Großdioramen und Puppen über Exponate und erklärende Texte. Allerdings wurde mittels einer Lichtschranke eine Bandstimme aktiviert, die untermalt von passenden Geräuschen, die historischen Fakten, für ein breites Publikum aufbereitet, auf Spanisch zum Besten gab. Im sechzehnten Jahrhundert fanden sich neben Waffen und Werkzeugen der Spanier ein Schlachtpanorama, bei dem eine entrada von Indianern im Urwald angegriffen wurde. Im siebzehnten Jahrhundert stand die Kirchengeschichte im Vordergrund und das idealisierte Leben der Europäer und der zwangschristianisierten Indianer. Im 18. Jahrhundert gab’s einige alte Buchfaksimile zum Selbstöffnen. Dadurch wurde der naturwissenschaftliche Inhalt von einem Projektor an die Wand geworfen. Ein alter Himmelsglobus aus Paris vervollständigte den Büchertisch. Natürlich wurde auch auf die Expedition La Condamines abgehoben, der die Äquatorlinie festlegte. Alexander von Humboldt, der immer wieder auf diese französische Vermessungsreise Bezug nimmt, eröffnete das neunzehnte Jahrhundert. Offensichtlich verlor Südamerika, wie diese und die nächste Abteilung zeigten, in der Folgezeit viel von seiner Eigentümlichkeit. Die Exponate sind, wenn nicht direkt aus Europa oder Nordamerika eingeführt, deutlich diesen angenährt, wenn sie aus einheimischer Produktion stammen.
Das Museum beherbergte zu diesem Zeitpunkt zusätzlich zwei Sonderausstellungen. Die Zeichnungen eines deutschen Malers und die Installationen eines einheimischen Künstlers, der Modelle zu Aufbau und Funktion des menschlichen Körpers präsentierte. Im zweiten Innenhof waren Gaukler, Imbissbuden und Kinderbetreuung untergebracht.
Die touristische Neustadt
Der Spaziergang nach der Siesta führte mich weit nach Norden in die touristische Neustadt. Hier trifft man fast mehr Ausländer, als Einheimische und es ist auch entsprechend teurer. Im Norden gibt es mehr bessere Restaurants und wenigstens überhaupt so was wie Kneipen. Allerdings kam’s mir hier recht teuer vor. Die Altstadt hingegen ist zwar billiger, aber nachts nicht ganz sicher, sagte das Touristenbüro, nicht ganz zu unrecht. Daß die Neustadt aber sicher sei, konnten sie auch nicht sagen.
Nachdem ich die Altstadt hinter mir gelassen hatte, ging ich durch den Park La Alameda, in dem ich das älteste astronomische Observatorium Südamerikas leider nur von außen besichtigen konnte. An einem Standbild Bolívars vorbei verließ ich den Park. Etwa einen Kilometer weiter traf ich auf den Park El Ejido. Er ist wesentlich ausgedehnter, als La Alameda. Dahinter gelangte ich in die Nordstadt. Hier sah ich wesentlich weniger Einheimische, als in den anderen Stadtteilen. Alles ist hier auf die Bedürfnisse der meist nordamerikanischen Touristen ausgelegt. In einen Tabak- und Schnapsladen fand ich zwar keinen Tabak, aber immerhin die kolumbianischen Pielroja. Die ecuadorianischen Filterlosen waren mir zu stark parfümiert und der Tabak ist zu hell. In einer tienda konnte ich mir die am Gaumen klebende Zunge lösen, bevor ich mich in der einsetzenden Dunkelheit auf die Suche einem Restaurant zum Abendessen machte.
Wie im Reiseführer versprochen, gab’s bei Mama Clorinda viel, gut und preiswert zu essen. Das schien aber auch eine deutsche Reisegruppe herausgefunden zu haben, denn einige ihrer Mitglieder wurden zeitweise an meinem Tisch platziert, bis genügend Tische zum Zusammenstellen frei waren. Der Smalltalk bis dahin, war mir, auch weil ich nach Wochen wieder Deutsch reden konnte, ganz angenehm, allerdings lehnte ich das Angebot ab, mich zu der Gruppe an den Tisch zu setzen. Ich fühlte mich nach vier Monaten in Südamerika bereits zu weit weg von Normaltouristen und ihren Ansichten.
Da ich noch keine Lust hatte, ins Hotel zurückzufahren, machte ich mich auf die Suche nach einer Kneipe. So selten echte Kneipen in Südamerika sind, so konzentriert fand ich sie im Stadtteil Mariscal. Nachdem ich mir einige angesehen hatte, fiel meine Wahl auf eine Bar namens Lennon’s.
Hier saß ich an der Theke und genoß mein Bier. Neben mir saß ein Brite, der schnell mit mir ins Gespräch kam. Ich hatte den Eindruck, daß er eine Art Endlos-Reise in Südamerika machte. Aber im Gegensatz zu mir suchte er sich nur Orte aus, die über eine ausreichende touristische Infrastruktur besaßen. Daher empfahl ich ihm Cartagena. Er hatte einen Reiseführer dabei, den ich soweit ich in den Orten bisher gewesen war, durch meine Eindrücke und Empfehlungen ergänzen konnte. Irgendwann ließ ich nebenbei einfließen, daß ich, wie er sicher an meiner Sprache gehört hätte, Deutscher sei. Er gab seine Verblüffung an mich weiter, als er verneinte.
In eine Gesprächspause mischte sich ein Ecuadorianer, der sich neben mich gesetzt hatte. Das Gespräch mit ihm hat mir deswegen mehr Freude gemacht, weil er gebildeter war, als der Brite. Er stellte sich als René vor und sagte er sei Künstler. Einige seiner Werke, die in die Jackentasche paßten, zeigte er mir. Er verkaufte auch während unseres Gesprächs eins, aber mir ging er damit nicht auf die Nerven. Inzwischen hatte an einem Tisch nicht weit vom Tresen ein weiterer Tourist Platz genommen. Ziemlich arrogant rief er René zu, daß er gerade Kolumbien durchquert habe. Ich fragte ihn, mit welchem Verkehrsmittel und er antwortete mit dem Auto. Nach Anerkennung heischend, sah er uns an. Ich sagte ihm ziemlich abfällig, daß ich ebenfalls gerade Kolumbien durchquert hätte, allerdings mit dem Fahrrad. Damit konnte ich das angenehme Gespräch mit René noch eine Weile fortsetzen, bis ich beschloß, mir ein Taxi zurück zum Hotel zu nehmen.
Altstadt
Da ich befürchtete, wegen des Datums bei den Museen vor verschlossenen Türen zu stehen, beschloß ich einen ausgedehnten Rundgang durch die Altstadt zu machen. Zu meinem Unmut mußte ich allerdings feststellen, daß die Straßen noch überfüllter waren, als Wochentags. Das lag einerseits an der vergrößerten Anzahl der Verkaufsstände und zum anderen an dem vermehrten Auftreten von Passanten. Ich wurde durch die Gassen geschoben und fühlte mich, wie bei einem riesigen Volksfest. Irgendwann gelangte ich in einen Marktbereich, der überdacht war. Hier wurde mir die Luft noch schlechter, obwohl ich bereits den Vorteil genoß, durch meine Größe etwa um Haupteslänge über den Einheimischen atmen zu können. Es war nicht einfach, in dem verschachtelten Gewirr von Verkaufsständen, hier meistens Textilien, Elektrogeräte und Hausrat, den Weg zurück ins Freie zu finden. Hier suchte ich, den sich über mehrere Straßenzüge erstreckenden Marktbereich endgültig zu verlassen.
Vor Kloster und Kirche San Francisco, immerhin von 1553, gab es ein paar lichte Stellen im Gedränge und ich sah mir das Gebäude an. Die Kirchen in Quito leben meist von ihren bis zur Decke reichenden Altären, die zwar aus Holz sind, aber dafür durchgehend vergoldet. In der Mitte sitzt meist entweder Jesus oder Maria und umgeben sind sie von anderen Heiligen, Aposteln oder Ordensgründern. In den besonders reich geschmückten Kirchen stehen in den Seitenschiffen, ebenfalls bis zur Decke reichende, Schreine oder Altäre mit weniger wichtigen Klerikern, aber ebenfalls durchgehend vergoldetes Holz. San Francisco hat dazu noch reichlich Gemälde an den Säulen aushängen und gute Deckenmalereien.
Alexander von Humboldt nennt die Einrichtung von San Francisco allerdings geschmacklos. Außerdem steht in seinem Tagebuch: "Man wundert sich besonders, eine Kirche des heiligen Franziskus mit Vergoldungen zu sehen." Franz von Assisi hatte zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts Armut der Kirche zur Doktrin des von ihm gegründeten Ordens erhoben, damit die notleidende Bevölkerung ihre Grundbedürfnisse decken konnte. Hier in Südamerika waren es vor allen die Franziskaner, die die Indianer ausgebeutet hatten. Als Gegenleistung für ihre Missionierung mußten sie ihr Gold abgeben, das nun umgeschmolzen die Kirchen schmückt und sie mußten diese in Zwangsarbeit aufbauen. Humboldt wundert sich völlig zurecht. Bei ihm fand ich auch den Hinweis auf den Zedernwald, der an der Stelle des heutigen Klosters stand und der heute den Dachstuhl des Gebäudekomplexes bildet.
Um der Hektik des Feiertags zu entgehen, lief ich zur neogotischen Basilika. Von außen ist sie sicher sehenswert, aber in ihrem Inneren gibt es nichts besonderes. Weil es Zeit wurde, suchte ich mir ein Restaurant zum Mittagessen. Das war allerdings deswegen nicht so einfach, weil an diesem Tag nicht alle geöffnet hatten. Außerdem war die Dichte an Restaurants in der Altstadt nicht sehr hoch.
Sylvester
Nach der Siesta lief ich Richtung Süden, um mir einen etwas ruhigeren Blick über die Stadt zu verschaffen, die sicher eine der baulich-architektonisch schönsten Städte war, die ich auf der Reise gesehen habe. Aber an Sylvester gab’s nirgends Ruhe. Inzwischen waren einerseits Kinder auf der Straße, die vermittels eines auswendig gelernten Spruches von den Passanten Geld wollten – ich bin auf diese Art mein ganzes Kleingeld losgeworden –, andererseits, und das erschien mir gefährlicher, als Frauen verkleidete junge Männer, die Straßensperren errichteten und Wegzoll erpressten. Daneben verbrannten sie Puppen, die das alte Jahr symbolisieren sollten.
Natürlich handelte sich dabei um ein traditionelles Rollenspiel, aber dabei erschien mir die von den zunehmend betrunkener werdenden Burschen durchaus auch eine reale Gefahr auszugehen, zumindest für Ausländer. Daher beschloß ich, mir ein Taxi zu nehmen um in die touristische Neustadt nach Norden zu fahren. Der Preis war wieder recht hoch, aber diesmal gestand ich dem Taxifahrer zu, daß er an den unzähligen Straßensperren jedes Mal einige Cent loswurde. Im Stadtteil La Mariscal, der Neustadt, waren zwar ebenfalls Überfälle vorgekommen, aber die gab es zwar zu jeder Jahreszeit und üblicherweise erst nach Mitternacht. Und europäische oder gar nordamerikanische Verbrechensraten werden in Quito sowieso nie erreicht.
Nach einigem Suchen, das sich in dieser Gegend aber eher auf die große Auswahl bezog, fand ich ein Grill-Restaurant, der gehobeneren Klasse, wo ich hervorragend dinierte. Auch hier hörte ich an einigen Tischen Deutsch. Anschließend lief ich in die Region der größten Kneipenkonzentration und fand eine nette Terrasse. Da der Laden auch über Internetplätze verfügte, ergriff ich die Gelegenheit für einen Bericht.
Neujahr
Da an diesem Tag die Leute ihren Rausch vom Sylvesterfeiern ausschliefen, war der morgendliche Spaziergang durch die Altstadt, auch in bisher nicht gesehene Teile, ziemlich entspannt, obwohl ich bei weitem nicht der einzige war, der sich auf der Straße befand. Der unangenehme Aspekt war, daß viele Läden und natürlich alle Sehenswürdigkeiten geschlossen waren. Immerhin konnte ich einige Kirchen von innen sehen. Nicht, daß ich etwas aufregend Neues gesehen hätte, aber die churrigureske Einrichtung variierte von Kirche zu Kirche. Churriguresk ist so was wie Barock in Europa, der aber wegen des unübersehbaren Einflusses der Indianer eine eigene Stilrichtung darstellt; Andenbarock, hört man in diesen Zusammenhang gelegentlich. Der Name kommt von dem spanischen Architekten José Churriguera, der von 1650 bis 1723 lebte.
Die Kathedrale aus der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts enthält das Grab Sucres, vor dem ich einen Moment verweilte und seiner Leistungen gedachte. Sie enthält viele Gemälde und zeigt einen deutlich maurischen Einfluß. Die Wiedererrichtung nach dem Erdbeben von 1797 fügte neoklassische Elemente, wie die grüne Kuppel hinzu. Von außen mißfiel sie Humboldt, der gerade die Erneuerung des Portals erlebte. Die Gemälde und die Innenausstattung fanden aber seinen Beifall. Die Kapelle El Sagrario, die unmittelbar daneben liegt, zeichnet sich durch reiche vergoldete Schnitzereien aus.
Zwei Straßen weiter westlich fand ich die zur Erinnerung an den Pichincha-Ausbruch von 1698 errichtete La Merced-Kirche mit ihrer monumentalen Fassade. Das zugehörige Kloster konnte ich mittels einer Führung durch einen der Padres besichtigen. Diese Kirche wurde von der Expedition von La Condamine als Bezugspunkt für astronomische Berechnungen gewählt. Auf dem Rückweg kam ich an La Compañia de Jesús vorbei und ließ mir die Gelegenheit nicht entgehen, diese prächtige Jesuitenkirche von innen zu betrachten. Mit ihren Gemälden und vergoldeten Fresken gehört sie zu den schönsten Kirchen, die ich in Südamerika sah. Als ich vor der Casa Sucre stand, mußte ich feststellen, daß dieses leider gerade Renovierungsarbeiten unterworfen war, so daß ich es nicht von innen zu sehen bekam.
Nach der Siesta wartete ich Fahrrad und Ausrüstung ausgiebig. Am Nachmittag wurde ich mit den Schwierigkeiten der Einheimischen konfrontiert. Als ich nach der Fahrradpflege meine Hände waschen wollte, stellte ich fest, daß man, aufgrund zu hohen Verbrauchs am Feiertag das Wasser abgestellt hatte. Bei einer solchen Spitzenzeit des Verbrauchs würde der Strom auch bald folgen. In der Neustadt gab’s solche Schwierigkeiten nie. Auch das war für mich ein Grund in der Altstadt zu wohnen. Ich wollte die üblichen Lebensumstände der Südamerikaner erfahren.
Das Verhängnis
Nachdem ich mir endlich die Hände waschen konnte, wurde es Zeit, sich auf die Suche nach dem Abendessen zu machen. Da mich am Vortag Shorton’s Grill überzeugt hatte, bin ich in die Neustadt gefahren und habe erneut dort gegessen. Ohne rechte Lust saß ich noch in einer der umliegenden Kneipen, bevor ich mich auf den Rückweg machte. In der Nacht wurde ich mehrmals von schwerer Übelkeit und Durchfall zur Toilette gezwungen. Ich vermutete, daß man mir im teuren Restaurant bereits verdorbenes Fleisch zubereitet hatte.
Jetzt, wo ich endlich meine Museumstour hätte machen können, fesselte mich die Lebensmittelvergiftung ans Zimmer. Durch die halb durchwachte Nacht und die Entmineralisierung war ich zu geschwächt, um mehr als eine Apotheke und die tienda beim Hotel aufzusuchen.
Als ich gerade die Rezeption des Hotels passierte, hielt sich einer der beiden Hotelmanager gerade bei der sehr gut aussehenden Empfangsdame auf. Er fragte mich nach meinem Befinden und ich berichtete von der Nachlässigkeit bei Shorton. Ich nutzte auch gleich die Gelegenheit, nach der nächsten Apotheke zu fragen. Er beschrieb mir zwar den Weg, fügte allerdings hinzu, daß die Empfangsdame das sei, was der Doktor verordnet hätte. Nur aus den Augenwinkeln heraus nahm ich wahr, daß sie Frau genauso wenig von dem dummen Spruch hielt, wie ich. Ich wandte mich um und ging zur Apotheke.
Gegen Abend verbesserte sich mein Zustand etwas, aber der Magen hatte sich noch nicht ganz erholt und ich hatte Kopf- und Gliederschmerzen. In diesem Moment bedauerte ich, nicht in einen besseren Hotel zu sein, da ich hier keinen Fernseher hatte. Wenigstens besaß ich noch die am Vortag gekaufte Sylvesterausgabe einer Tagszeitung, um nicht nur in meinem Reiseführern lesen zu müssen.