Stefan K. Beck, Privatgelehrter und Projektemacher

Tagebuch

28. Ibarra

Die Panamerikana

Die gut fünfzehn Kilometer nach dem frühen Aufbruch aus Tulcán waren von einem recht harten Anstieg auf gut dreitausenddreihundert Meter gekennzeichnet. Der Morgen war feucht und neblig und je weiter ich nach oben kam, desto kühler wurde es. Nach etwa zwei Stunden hatte ich die Paßhöhe erreicht. Ab hier führte die Panamerikana in tiefere Regionen. Nach gut einer halben Stunde Abfahrt war ich in einem Dörfchen namens Julio Andrade. Hier beschloß ich, eine Pause einzulegen. Ich aß ein halbes Hähnchen, während ich den Meerschweinchen auf dem Drehgrill zusah

Derart gekräftigt wollte ich an diesem Tag eigentlich bis San Gabriel fahren. Auf der welligen Strecke traf ich allerdings einen Radfahrer in Pfauenmontur mit seinem kleinen Sohn. Der versicherte mir, ich könne noch leicht bis Chota fahren, weil es auf der Strecke hinter San Gabriel nur noch bergab ginge. So ganz glaubte ich ihm nicht, und ich hatte damit auch recht, aber trotz der vereinzelten Anstiege war der Abwärtstrend der Strecke hinter San Gabriel ziemlich deutlich. Fast eine Stunde fuhren wir nebeneinander und unterhielten uns, bis er in San Gabriel, seinem Wohnort, die Panamerikana verließ. Ich kämpfte mich noch bis nach Bolívar, wo ich an der Kreuzung, an der ich nach San Angel abbiegen wollte, in ein großes Restaurant einkehrte. Während der Pause sah ich durch die großen Fenster einen beeindruckenden Höhenrücken vor mir, der zwar nicht wesentlich höher war, als ich mich bereits befand, durch seine gerade noch mögliche Überschaubarkeit und dem sich anschließenden schroffen Felsen vor dem zu erahnenden Tal eine großartige Kulisse bildete.

Gegen zwei, nach einer Stunde Pause, fuhr ich auf die Kreuzung, von der ich schon von weiten gesehen hatte, daß sie gesperrt war. Der Radfahrer hatte mich vorher schon darauf hingewiesen, daß hier gesperrt wäre. Der Polizist, der die Absperrung bewachte, erklärte es mir genauer: ein Erdrutsch habe die Straße vor Ibarra weggerissen und die Bauarbeiten würden noch lange dauern. Er ließ niemanden mit dem Ziel Ibarra passieren.

Das warme Tal

Also folgte ich dem Rat des Fahrradfahrers und stürzte mich in die über tausend Meter tiefe Schlucht des Río Chota, um in der Nähe des gleichnamigen Ortes das von ihm empfohlene Ferienressort zu suchen. Die Abfahrt war landschaftlich eins der bis dahin größten Erlebnisse der Reise. An Felswänden und Schluchten vorbei schlängelte sich die Straße in das heiße Tal, das nur noch etwa siebzehnhundertfünfzig Meter über dem Meer liegt. Zwei Stunden später fuhr ich über die Brücke des Chota, beim gleichnamigen Ort. Hier sah ich, daß die Bevölkerung des Tals in überwiegender Mehrheit aus Schwarzen bestand; eine Bande von Jugendlichen hing in der Nähe der Brücke herum.

Hinter dem Ort begann die Straße wieder anzusteigen und ich brauchte noch fast eine Stunde bis ich die Zone der Ferienressorts erreichte. Als mich ein älterer Schwarzer mit gringo grüßte, war ich, eingedenk der Erfahrungen in Kolumbien und sicher auch ein wenig wegen des nicht enden wollenden Anstiegs, so verärgert, daß ich ihm, trotzdem ich zu diesem Zeitpunkt schon etwas atemlos war, mit einer unbeherrschten Schimpfkanonade antwortete.

Endlich, nachdem die Straße durch einen in den Fels gesprengten Durchgang über dem Fluß wieder abwärts ging, sah ich die Ferienanlagen, die, wie in Kolumbien den begüterten Hochlandstädtern zum Aufwärmen dienten.

Der Radfahrer hatte mir das Oasis empfohlen. Es war augenscheinlich wirklich das Beste, den Preis von siebzehn Dollar fand ich aber nicht so gut. Ich ließ mir das Zimmer zeigen und bezahlte mit der Kreditkarte. Als ich gerade einziehen wollte, sprach mich ein Mann Anfang Dreißig an, bezüglich des Fahrradfahrens und wohin ich weiter wolle. Als er hörte, daß ich nur wegen der gesperrten Straße hier und mein nächstes Ziel Ibarra war, bot er mir sofort an, mich und das Fahrrad heute noch mit dahin zu nehmen und mich in seinem Haus übernachten zu lassen. Er erklärte mir, daß er eine Gruppe von Autoverkäufern chauffierte, die eine Art vorgezogene Weihnachtsfeier in der zum Komplex gehörenden Disco feierten. In etwa zwei Stunden solle es wieder zurückgehen und nachdem wir sie abgeladen hätten, könnten wir noch was unternehmen. Da der Mann einen seriösen Eindruck machte, bin ich auf sein Angebot eingegangen.

Nachdem ich mir das Geld von der Hotelverwaltung zurückgeholt hatte, bin ich mit Francisco, so war sein Name, in die Disco gegangen, wo sich die jungen Autoverkäufer vergnügten. Nachdem ich den größten Durst gestillt hatte, versuchten wir durch den Lärm der Lautsprecherboxen hindurch eine Konversation zu führen, die sich recht angenehm gestaltete. Gelegentlich kam eine Neugierige oder ein Neugieriger aus der Gruppe, die Francisco fuhr, um mich etwas auszufragen.

Erstaunlich pünktlich brach Francisco die Feier ab und bat in seinen Bus. Hier traf ich einen weiteren Anhalter, einen Indianer, den Francisco ebenfalls mit in den engen Kleinbus gedrückt hatte. Rafael erzählte mir, daß er einer der berühmten Weber von Otavalo war, die aus Wolle die im ganzen Land und bei den Touristen begehrten Ponchos in einer Woche Handarbeit herstellten. Er hatte das Weben, hier obraje genannt, von seinem Vater gelernt. Eigentlich bedeutet das Wort Anfertigung, aber in der Kolonialzeit war damit Zwangsarbeit gemeint. Ich konnte nicht verstehen, daß er dieses Wort immer noch benutzte.

Auf der nächtlichen Fahrt erfuhr ich, was Francisco damit gemeint hatte, als er sagte, daß die Straße für Radfahrer ziemlich ungeeignet sei. Der einzige Weg war ein sogenannter camino real, ein gepflasterter Weg aus der Kolonialzeit, vergleichbar mit den schlechtesten gepflasterten Wegen in Ostdeutschland, wo ich einige hundert Kilometer vor der Reise geübt hatte. Obwohl wir sein und mein Fahrrad gut auf dem Fronthalter befestigt hatten, mußten wir während der einstündigen Fahrt zweimal aussteigen, um die Haltebänder nachzuziehen, damit die Fahrräder nicht aufsaßen. Wäre ich mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, hätte ich wohl fünf Stunden für den Aufstieg und noch einmal eine Stunde für die Abfahrt gebraucht. Von den möglichen Schäden, die eine derart schlechte Straße im Zusammenhang mit meinen fünfundvierzig Kilo Gepäck verursacht hätte, ganz zu schweigen.

Nachdem die Gruppe der Autoverkäufer ihre Neugier an mir befriedigt hatte, wandte ich mich Rafael, der vorne zwischen mir und Francisco saß, zu. Wir sprachen auch über die Indianer. Dabei kam ich auf die Frage, wieso er keinen indianischen Namen trüge. Die Antwort machte mich betroffen: Rafael sei indianisch. Ich setzte ihm auseinander, daß es vor der Ankunft der Spanier in Südamerika bereits den Namen in Europa gegeben hätte. Als wir dabei an den See, an dem Ibarra liegt, vorbeifuhren und sich darin die Lichter der Hauptstadt der Provinz Imbabura spiegelten, fragte ich nach seinem Namen. Ich wußte vorher, daß die Inkas die hier ansässigen Indianer in einer Schlacht besiegt hatten und hinterher ein Massaker unter den Überlebenden angerichtet hatten. Die Laguna Yahuarcocha, die deswegen Blutsee heißt, setzte ich ihm auseinander, das sei ein indianischer Name. Allerdings auch in einer aufgezwungenen Indianersprache: Quetschua. Die Unterdrückung der Indianerkulturen durch Spanier war offensichtlich derart stark gewesen, daß die Indianer noch nicht einmal mehr wußten, was sie alles verloren hatten.

San Diego de Ibarra

Nachdem Francisco seine Fahrgäste nach Wunsch in kleinen Gruppen abgeladen hatte, gingen wir essen. Danach wußte er, wo wir einige Dosen deutsches Bier für den Rest des Abends in seiner Wohnung kaufen konnten. In seinem Haus wies er mir das Gästezimmer zu, das auch über ein eigenes Bad verfügte, und wo ich meine Ausrüstung und das Fahrrad abstellte. Mit meinen Musikkassetten kehrte ich ins Wohnzimmer zurück, wo wir noch eine ganze Weile tiefsinnig philosophierten.

Zum ausgiebigen Frühstück lernte ich Franciscos Frau Luz und die vier Monate alte Tochter kennen. Danach saß ich mit ihm vor dem Haus. Auf den umliegenden Hügeln, die Francisco zum wandern pries, sah ich eine riesige Madonnenstatue, von der er sagte, man könne sie in einem einstündigen Fußmarsch erreichen. Nachdem wir uns noch mit einem der Nachbarn unterhalten hatten, beschäftigte ich mich mit der Ausrüstung, bis Luz zum Mittagessen rief. Francisco, der sich zwischenzeitlich in meinem Zimmer aufhielt, war der einzige Südamerikaner, dem ich große Teile meiner Ausrüstung zeigte und erklärte. Besonderes Interesse zeigte er natürlich an meinem Fahrrad und den dazugehörigen Accessoires.

Humboldt war auf seinem Weg nach Quito natürlich ebenfalls hier gewesen. Nur in seinem Tagebuch vermerkte er nichts dazu. Vielleicht hat das was mit Francisco José de Caldas zu tun, der ihn hier, aus Quito kommend getroffen hatte. Die Geschichte mit Caldas, den Mutis in Bogotá Humboldt empfohlen hatte, ist weniger schön, weil, warum auch immer, Humboldt an Caldas Fähigkeiten zweifelte und Caldas sich mit übler Nachrede dafür revanchierte, daß Humboldt ihn nicht auf seiner weiteren Reise ein Stück mitnahm.

Den Sonntagnachmittag beschlossen wir mit einer Stadtrundfahrt in Franciscos Auto zu verbringen. Zuerst fuhren wir zum Yahuarcocha-See. Hineinzufahren hätte Eintritt gekostet, ohne, daß wir deswegen mehr gesehen hätten. Also fuhren wir zurück in den Ort. Hier zeigten sie mir einige Kirchen. In die Kathedrale gingen wir hinein, das heißt, Luz wartete im Auto. Er wollte mich noch von einem speziellen Eis überzeugen, das mit Schnee von einem der umliegenden Gipfel und frischen Früchten zubereitet war. Dieses Eiscafé, erklärte er mir, gäbe es schon über hundert Jahre. Das Rezept ist wohl noch älter, denn Humboldt berichtet aus der Gegend Quitos von mit Gletschereis angereicherten Sorbeten.

Abschließend fuhren wir zum Markt bei der Bahnlinie. Ob es den Zug nach Otavalo, und nur dahin, noch gab, erschien mir fraglich. Hier wurden die landwirtschaftlichen Erzeugnisse der Region feilgeboten: Kartoffeln, Nüsse, Früchte, sogar Erdbeeren, und Gemüse. Obwohl eng und verschachtelt, fand ich den Markt deswegen nicht so unangenehm, wie andere, die ich gesehen habe, weil er weniger ausufernd war.

Zurück in dem Vorort am Stadtrand, in dem sein Haus stand, bin ich mit Francisco zur nächsten tienda, um meinen Durst zu löschen. Zurück in seinem Haus, bestand ich darauf, ihn und Luz zum Abendessen einzuladen. Wegen des Kindes lehnte Luz jedoch ab, so daß Francisco und ich zum Steakhaus fuhren, um unsere Bestellung mitzunehmen. Gemeinsam aßen wir im Esszimmer mit Luz.

Wir ließen den Abend ruhig im Wohnzimmer mit einem guten Gespräch ausklingen.

Da ich morgens noch zur Bank mußte, begleitete mich Francisco, um sicherzustellen, daß alles klarginge. Auf dem Weg dahin, kamen wir an der Stelle vorbei, von der mir Francisco sagte, daß hier Bolívar die Schlacht von Ibarra geschlagen habe. Bolívar in Ibarra? Am siebzehnten Juli 1824, über ein Jahr nach der Befreiung Ecuadors, mußten aufständische Monarchisten zur Räson gebracht werden, deren Starrsinn, der von Pasto ausging, bei zwei vorhergehenden Strafaktionen Bolívars und Sucres trotz drakonischer Maßnahmen nicht zu brechen gewesen war. Das erklärte mir Francisco allerdings nicht.

Obwohl Francisco bestimmt längst zur Arbeit hätte müssen, brachte er mich zurück in sein Haus, wo ich mich von ihm und seiner Frau verabschiedete und mich auf den beschwerlichen Weg nach Otavalo machte, das bereits in der Provinz Pichincha liegt, dessen Hauptstadt Quito ist.



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