Stefan K. Beck, Privatgelehrter und Projektemacher

Tagebuch

27. Tulcan

In Ecuador

Auf der ecuadorianischen Seite der Grenze fand ich keine Geldwechsler mehr. Dafür stieg die Panamerikana beim Umfahren eines besseren Hügels weiter an, bis ich in ein höher gelegenes Tal abfahren konnte, in dessen Mitte ein kleiner Höhenrücken zwischen zwei tiefen Bachbetten lag. Darauf erstreckte sich der größte Teil des Stadtgebiets von Tulcán.

Alexander von Humboldt, der hier nach Weihnachten 1801 ebenfalls durchreiste, beschreibt die heutige Hauptstadt der Provinz Carchi als kleines Indianerdorf, in dem zu Zeiten der Eroberung über zehntausend Einwohner gelebt hatten. Die Reste der ursprünglichen Indianerhäuser, die er noch gesehen hatte, sind heute überbaut und die Mehrzahl der Bevölkerung sind Mestizen. Zurecht weist Humboldt daraufhin, daß es weder Krankheiten noch die Zwangsarbeit in den Bergwerken waren, die die Indianer so stark dezimiert hätten, sondern: "Indianer sind die ärmste, bedrückteste Menschenklasse, und eine schlechte Regierung, wie die hiesige, drückt am schwersten auf die dürftigste und wehrloseste Klasse."

Orientierung

In der Stadt orientierte ich mich mittels der Karte im Reiseführer, um eine Unterkunft zu finden. Als ich auf einen Geldwechselladen stieß bin ich hinein, um Sucre zu tauschen. Ich war nicht schlecht überrascht, zu hören, daß die Währung aufgrund zunehmender Schwäche durch US-Dollar ersetzt worden war.

Nach einigem Suchen fand ich ein Hotel, das aber eher als Pension angesprochen werden sollte. Die Zimmer waren ziemlich einfach, aber ein Fernseher mit Kabelanschluss war vorhanden und es gab Warmwasser. Für drei Dollar kann man kaum mehr erwarten. Obwohl es nicht zum standardmäßigen Service gehörte, erklärte sich das Zimmermädchen bereit, die Wäsche zu waschen – von Hand. Der Preis setzte sich vor allem aus dem Preis für das Waschmittel zusammen, erklärte sie mir.

Als ich zum Mittagessen ging, fiel mir auf, daß es etwas kühler geworden war. Die elf Grad, die ich auf einem Thermometer sah, waren eindeutig Höhe von fast dreitausend Meter zuzuschreiben. Per Zufall landete ich in einem kolumbianischen Restaurant. Der Wirt war aus Bucaramanga, was uns Gesprächsstoff lieferte, da ich dort einige Tage zugebracht hatte. Er war die Verhältnisse dort leid und vor der Guerilla geflohen. Bei den angenehmen fünfhundertachtundsiebzig Kubikzentimetern der Bierflaschen blieb ich fast drei Stunden da. Die Qualität des Bieres schien mir nur knapp unter der kolumbianischen zu liegen. Nirgends auf der Reise hätte jedoch deutsches Bier den Vergleich verdient.

Später, nach einigem Suchen, fand ich einen Internetladen, um meine Ankunft in Ecuador zu vermelden. Dabei stieß ich auf einen Mail-Anhang in Form eines eingescannten Zeitungsberichts aus Deutschland. Hier wurde die Staatspropaganda, die in Kolumbien schon keiner glaubt, wiedergegeben – dazu noch ungenau! Der damalige Präsident Pastrana wollte einen für sein Ansehen spektakulären Friedensschluß mit den linken Guerilleros, auf deren Kosten, und damit seine eigenen korrupten Machenschaften überdecken. Von einem Mann, der hemmungslos sein Land an die USA verkauft hat, um mit deren Hilfe seine auf Vergrößerung der sozialen Kluft ausgelegte Politik durchzusetzen, konnte niemals eine dauerhafte Friedenslösung ausgehen. Die kolumbianische Bevölkerung hat das, wie ich aus vielen Gesprächen wußte, auch nie geglaubt – im Gegenteil. Die vor allem von den Betroffenen, nämlich von Großgrund- und Fabrikbesitzern, nebst deren politischen Vertretern, abgelehnten Reformvorschläge, wären teilweise zumindest durchaus geeignet, die soziale Schieflage des Landes zu korrigieren. Statt dessen werden die Guerilleros verleumdet und ihnen werden Verbrechen der rechten Volksschädlinge untergeschoben. Daher habe ich mich zu jedem Zeitpunkt in Kolumbien sicher gefühlt, was die Guerilleros angeht: zu unbedeutend und zu arm für eine Entführung. Bei den Paramilitares oder unpolitischen Verbrechern hätte ich jedoch um mein Leben fürchten müssen. Die Verärgerung der Mehrzahl der Kolumbianer wegen dieser Regierungspolitik, deren indirekte Opfer sie sind, habe ich im ganzen Land verspürt. Als ich mich in Kolumbien aufhielt, rechneten viele, auch Offizielle, mit einem erneuten Bürgerkrieg, zu dem es Gott sei Dank, oder leider, wie immer man das sehen will, jedoch nicht kam. Eine Verschärfung der Situation ist aber doch eingetreten. (Ohne, daß damals die Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien gekannt hätte.)

Ein weiteres Problem der US-Amerikaner und der Europäer, das ebenfalls von Clinton und Pastrana geregelt wurde, betrifft den Anbau und in größerem Maß die Hydrochloridisierung von Coca, das in größeren Mengen als in Kolumbien angebaut, aus Peru eingeführt wird. Es ist widersinnig, den Produzenten einer Ware, die als illegal angesehen wird, zu verfolgen. Sinnvoller und effektiver ist der Abbau von sozialen Ungerechtigkeiten und weiteren Ursachen für den Drogenmissbrauch in den Abnehmerländern. Zurecht hat man mir in Kolumbien gesagt, daß man lediglich eine Nachfrage decke, und geschaffen wird diese Nachfrage nicht in Kolumbien. In diesem Zusammenhang versteht man, warum Pablo Escobar wie ein Robin Hood gefeiert wurde. Er spendete große Teile seines Geschäftsgewinns zugunsten seiner weniger bemittelten Landsleute. Wenn man noch dazu weiß, wie rücksichtslos US-Firmen, mit Unterstützung ihrer Regierung – von geheimdienstgesteuerten Putschen bis zum unverhohlenen Einmarsch von Truppen zur Stärkung der Konzerninteressen –, die südamerikanische Bevölkerung ausgebeutet haben, wird Glorifizierung eines Verbrechers verständlich. Diese selbstentwickelte Einschätzung der Sachlage hat mir in der Bevölkerung, soweit ich mich dazu geäußert habe, immer große Sympathien eingebracht. Nach dem Abendessen verbrachte ich einen ruhigen Abend vor dem Fernseher.

Auf dem Friedhof

Da die Wäsche noch in Arbeit war und ich sowieso einen Ausruhtag vorgesehen hatte, besuchte ich nach dem Frühstück den sehenswerten Friedhof von Tulcán. In den Dreißiger Jahren hatte der Vater des heutigen Friedhofsgärtners damit angefangen, die Hecken in indianische Formen von vor der Conquista zu schneiden. Viele der getrimmten Hecken erinnern an die figürlichen Darstellungen, die ich von Fotos aus San Agustín kannte. Tierdarstellungen und menschenähnliche Götter machen den Hauptteil des Friedhofs aus, der, wie mediterrane Friedhöfe, über viele Urnengräberwände verfügt.

Im hinteren Teil des Friedhofs saßen auf einer Einfassungsschwelle ein etwa Fünfzigjähriger und ein Mann Ende zwanzig mit einer Schnapsflasche. Sie luden mich auf einen Frühschoppen zu sich ein. Wir saßen über eine Stunde beisammen und dezimierten den aguardiente, der hier nur knapp dreißig Prozent hat.

Pedro, der ältere, überraschte mich mit seiner Kenntnis der Siegfried-Sage. An den Namen konnte er sich nicht mehr erinnern, aber die Geschichte kannte er recht gut. Ein Deutscher muß sie ihm irgendwann mal erzählt haben. Während wir plauderten kamen auf einmal zwei Polizisten den Weg herab und fragten was wir hier täten. Ich lauschte mit steinernem Gesicht, wie Jorge, der jüngere, von der Trauer um seine Verwandten erzählte. Die Bullen nahmen es ihm genauso wenig ab, wie ich und fragten, wieso wir eine Schnapsflasche hätten. Die Trauer und der Schmerz wären so groß, antwortete Jorge. Wir sollten sehen, daß wir verschwinden, das Trinken auf dem Friedhof wäre verboten. Damit entfernten sie sich. Gemächlich, nach kurzer Diskussion, entschlossen wir uns, keine zweite Begegnung mit den Bullen zu riskieren.

Nach einem kurzen Spaziergang erreichten wir die Schuhmacherwerkstatt von Pedro. Hier schlossen wir uns mit der nächsten Flasche ein. Die Konversationsfähigkeit der beiden, vor allem die Pedros, ließen bald nach, und irgendwann lag Pedro auf dem Boden und streckte alle Viere von sich. Jorge brachte ihn mit meiner Hilfe in sein Bett, das im hinteren Teil der Werkstatt stand. Nachdem wir noch schnell die Flasche geleert hatten, verließen wir die Werkstatt. Nun wollte mir Jorge seinen Arbeitsplatz zeigen. Wir gingen in die Schreinerei seines Vaters, der zwar nicht begeistert war, seinen Sohn mittags betrunken zu sehen, aber keinen Aufstand machte. Jorge zeigte mir seinen "Gesellenbrief" und den "Meisterbrief" des Vaters. Außerdem führte er mir einige seiner Werkstücke vor. Irgendwie war er an ein deutsches Buch gekommen, in dem Arbeitsvorlagen abgebildet waren. Das war sein größter Stolz.

Wieder auf der Straße trafen wir einen von Jorges Freunden, der uns zum späten Mittagessen begleitete. Danach entschlossen wir uns, eine Runde Billard zu spielen. Als wir in die Billardkneipe kamen, bestellte Jorge wieder eine Flasche Schnaps, die ich bezahlen mußte. Nachdem wir eine Stunde gespielt hatten, waren im oberen Stockwerk weitere Freunde von ihm eingetroffen, mit denen wir uns noch eine Weile am Tisch unterhielten und die Flasche leerten.

Auf dem Rückweg zum Hotel bin ich bei dem Kolumbianer eingekehrt, um zu essen. Da ich aber über dem letzten Bier zu lange warten mußte, bis das Essen endlich vor mir stand, verlor ich den Appetit und zahlte. Irgendwie schaffte ich es noch in mein Hotelzimmer, wo der Tag in bleierner Müdigkeit sein Ende fand.

Diem perdidi

Das Erwachen war recht heftig. Nach Dusche und einem ausgiebigen Frühstück konnte ich zur Besserung meines Zustandes nur Spazieren gehen. Als mir etwas besser ging, bin ich ins Hotel zurück, um mich meiner Ausrüstung zu widmen. Ich gab aber bald einer Siesta den Vorzug.

Nach einem kleinen Imbiss setzte ich die Wartungsaktion am Fahrrad fort. Erst nach dem Bier zum Abendessen fühlte ich mich wieder einigermaßen fit. Nach dem Kartenstudium für den nächsten Tag und den Tagebucheintragungen im Hotelzimmer, ließ ich den Tag vor dem Fernseher ausklingen.



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