Tagebuch
16. Socorro
Auf der Ostkordillere
Morgens, am Tag nach dem verhunzten Internet in Bucaramanga, bin ich erst um viertel acht losgekommen. Dann ging’s schon innerhalb der Stadt bergauf und bergab; Hier zeigte sich mal wieder, wie wenig eine Karte nützt, die nur Tausendmeter-Höhenlinien hat. Aber es war wenigstens kühler, als im Tiefland. Vor Los Coros ging’s kräftig bergauf. Hier nutzte ich die Gelegenheit, um mich zu stärken, aber mir schien, daß ich nicht sehr willkommen war. Ich dachte, daß man mich wieder mit einem Ami verwechselte.
Es ging in einer Klasse-Abfahrt ins Tal nach Pescadero. Aber wenn diese Unfähigen die Straße in der Höhe gehalten hätten, wäre alles in Ordnung gewesen. Das Ziel hieß eigentlich Pescadero. Aber hier war alles ätzend, die Leute, das Essen, der Preis und der Service. Daher habe ich beschlossen, den derben Anstieg doch noch in Angriff zu nehmen. Ein Kolumbianer, der mit seiner hundertfünfundzwanziger Gelände-Yamaha anhielt, hat mich mittels des Stahlkabels, das ich zum Abschließen des Fahrrads mitführte, über fünfzehn Kilometer den Berg hoch gezogen. Allein wäre ich sicher nicht mehr bei Tageslicht in Aratoca angekommen. Der Motorradfahrer schien das genau gewußt zu haben, daher hatte er angehalten und mich gefragt. Es ging mehrmals halb um den Berg herum und ich habe nie wieder ein steileres Stück auf der nachfolgenden Strecke angetroffen, in Kolumbien jedenfalls. Wenige Kilometer vor dem Ort hat mich der Motorradfahrer abgehängt, weil er das drohende Gewitter kommen sah. Er wollte noch bis San Gil und nicht naß werden. Mir blieb nur, nach kurzer Zeit, den Regenponcho überzuziehen.
Aratoca
Der Anblick oben war klasse, da sich die Wolken inzwischen über dem Gipfel befanden. Wegen des Regens, meiner Erschöpfung und der einsetzenden Dämmerung schaffte ich’s nur bis Aratoca. Gegen fünf kam ich an und fand eine Pension an der Hauptstraße. Ich quartierte mich in das in jeder Hinsicht billige Zimmer und duschte kalt. Anschließend setzte ich mich vor das zur Pension gehörende Restaurant. Ich saß an einem Plastiktisch und sah auf die Hauptstraße. Nach dem einfachen Abendessen, kam eine der Töchter des Hauses und versuchte, mir mit allen möglichen, das Geld aus der Tasche zu ziehen. Ein zufällig vorbeikommendes Mädchen hätte sie mir genauso verkauft, wie Drogen. Hauptsache ich zahlte. Die Tochter wurde immer unfreundlicher, weil ich nichts kaufte, außer Bier. Ich beschränkte mich ebenfalls bei diesen Leuten irgendwann auch nur noch auf Höflichkeit. Einen Lichtblick in der Familie schien es zu geben. Einen Fünfjährigen, der sich intensiv mit meinem Deutsch-Spanischen Taschenwörterbuch beschäftigte. Eigentlich hätte er, weil er Englisch lernte, dieses mit mir sprechen sollen, aber dazu hatte er offenbar keine Lust. Deutsch faszinierte ihn, jedenfalls in diesem Moment, mehr. Er las überraschend lange in dem Wörterbuch, war aber kaum zu Kommentaren zu bewegen.
Ich war schließlich froh, daß es Zeit wurde, in Bett zu gehen. Nach einem kurzen Blick auf die nächste Etappe beendete ich diesen wenig erfreulichen Tag.
In Gesellschaft
Ich sah zu, so schnell, wie möglich, aber doch nach dem Frühstück, Aratoca zu verlassen. Der Ort liegt etwa zweitausenddreihundert Meter hoch. Dennoch mußte ich bestimmt noch mal zweihundert Höhenmeter auf etwa zwei Kilometern zurücklegen, bevor ich auf der Passhöhe war. Dabei drückten wieder meine fünfundvierzig Kilogramm Gepäck. Auf dem Pass ging’s gute eineinhalb Kilometer wellig weiter. Und so, daß es danach nur bergab gegangen wäre, war’s auch nicht. Einige Bergrücken und die blödsinnige Straßenführung waren schon noch bis San Gil zu überwinden.
Einige Kilometer vor dem Ort haben sich mir zwei Einheimische in Pfauenmontur, das heißt Fahrraddress, die für ein Rennen trainiert haben, angeschlossen. Ich habe mich, da hier die Straße meist bergab oder flach verlief, gut mit Isidoro und Jaime unterhalten. In San Gil sind wir Bier trinken gegangen. In der Kneipe wieder was gelernt: Einer der beiden, Isidoro, hat mir erklärt, wie das hier mit der Guerilla liefe: Die linken Guerilleros greifen irgendwo den Staat, respektive seine Vertreter, an; etwa gleichzeitig vergehen sich die rechten Paramilitares an der Zivilbevölkerung und im Fernsehen sind es immer die Guerilleros, die propagandistisch diffamiert werden. Er hat mir erklärt, daß er öfter mit Betroffenen gesprochen hat, die gar nichts von der Guerilla gewusst haben, die sie laut Nachrichten überfallen haben. Wohl aber von Paramilitares, die sie verheerten. In der Kneipe saßen noch andere Gäste, die sich zum Teil in das Gespräch eingemischt haben. Keiner jedoch hat der Darstellung Isidoros widersprochen. Die beiden sind noch acht Kilometer bis hinter San Gil mitgefahren, bevor wir uns herzlich verabschiedeten und ich ihnen Glück bei dem anstehenden Radrennen wünschte.
Als die Straße steiler wurde, war ich wieder allein. Auf dem Weg, kurz vor Berlin(!), habe ich um halb zwölf Mittag gemacht. Ich sah eine Raststätte vor der mehrere LKWs standen. Ich war hungrig genug, um das Mittagessen etwas früher einzunehmen. Es war wieder eine comida corriente, diesmal aber mit Bohnen, anstatt Salat. Die meisten Stammessen, die ich in Kolumbien aß, waren ganz brauchbar, aber in diesem Restaurant war es herausragend. Die Bohnen jedoch waren legendär – mit Speck!
Socorro
Bald darauf erreichte ich Socorro. Der Ort hat mir auf den ersten Blick gefallen: Ein kleiner Ort, ziemlich sauber, in den Berg gedrückt, umgeben vom klasse Andenpanorama. Dazu gab’s schöne Kolonialhäuser und die große Kirche, wie ich beim Erkundungsgang nach der Siesta feststellen konnte.
Außerdem wurde hier Geschichte geschrieben. Als im, von mir [damals schon!] so bezeichneten, südamerikanischen "Vormärz" die Kommunarden, ausgelöst durch eine Steuer, zu revoltieren begannen, stand Manuela Beltrán in der ersten Reihe. Angeführt von José Antonio Galán und Juan Francisco Berbero marschierten die Aufständischen Richtung Bogotá. In Zipaquirá bewegten sie die Abgesandten des Vizekönigs, unterstützt vom Bischof Gongóra, mit falschen Versprechen zur Umkehr. Als dem Vizekönig wieder Truppen zur Verfügung standen, ließ er Socorro besetzen und die Aufständischen bestrafen. Galán wurde hingerichtet und verstümmelt. Während der Befreiungskriege wurden die Guerilleros der Umgegend von Antonia Santos angeführt. Sie wurde am 28.06.1819 hingerichtet. Die Spanier hatten offenbar die Gefahr erkannt, die von Bolívar, der gerade über den Páramo de Pisba gekommen war, ausging. Auf dem Platz vor der Kirche sah ich ihre Statue. Ein Museum, das zu Ehren der lokalen Freiheitshelden im Casa de la Cultura eingerichtet war, fand ich leider immer verschlossen.
Weil mir der kleine Ort mit seinen Gebäuden und Palmen auf zwölfhundert Metern Höhe, auch des milden Klimas wegen so gut gefiel, beschloß ich, da das Hotel einen guten Eindruck machte, hier einen Tag Station zu machen. Der Ort und seine Umgebung sind mir eine Empfehlung wert. Das gut eingerichtete Hotel, weniger wegen den Schwächen in der Warmwasserversorgung, als mehr, wegen der Ereignisse des nächsten Tages, nicht.
Abends, nach dem Essen, fand ich beim Studium der Reiseführer eine Empfehlung für den Besuch einer Kalkhöhle. Damit wußte ich, wie ich den nächsten Tag verbringen würde.
Die Kalksteinhöhle
Ich habe einen Ausflug nach Páramo gemacht; interessanterweise billiger, obwohl ein Umweg, über San Gil, weil hier Sammeltaxis verkehrten. Die kürzere Fahrt in einem Taxi direkt in den nahegelegenen Ort wäre erheblich teurer gewesen. Hier wollte ich mir eine der Höhlen im Kalkstein, überall mit Tonsteineinschlüssen, ansehen. Das Büro am Hauptplatz fand ich schnall. Der Höhlenbesuch, für umgerechnet fünfzehn Mark, war als Abenteuer ausgewiesen. Zur Geologie wußten die Führer nichts!
Der Einstieg, war der interessanteste ich je erlebt habe. Es ging mit Bauchgurt an einem Stahlseil über einen Bach etwa fünfzig Meter tiefer zum Eingang der Höhle. Nach rund siebzig Metern weitete sich die stellenweise nur knapp einen Meter hohe Höhle und erwies sich als Tummelplatz für Fledermäuse. Die Höhlentour war mir allerdings doch etwas zu abenteuerlich, da ich in Jeans und Lederschuhen angereist war. Kurz hinter der Fledermaushöhle bin ich umgekehrt: Mit etwas Wasser waten war zu rechnen gewesen, aber als ich sah, daß die Leute bis zur Hüfte im Wasser standen, habe ich mir an die Stirn getippt! Dahinter war schwimmen angesagt und später am Wasserfall hätte man dann sogar aus etwa drei Metern herunterspringen müssen.
Also bin ich zurück und habe mir mein Geld wiedergeben lassen. Weil ich trotzdem zwei Mark bezahlt habe, hat man mir wenigstens ein Video über den weiteren Verlauf der Höhle präsentiert. Nicht, daß ich eine solche Tour grundsätzlich ablehnen würde, aber dazu hätte ich mich entsprechend ausrüsten und kleiden müssen, auch, um die An- und Abreise in Bus und Sammeltaxi machen zu können. Kurz, ich hätte mich darauf, wie auf einen Schwimmbadbesuch einrichten müssen.
Andres
Wieder zurück in Socorro, wollte ich nach einem Mittagessen eine Siesta halten; Aus beidem wurde nichts. Als ich auf dem Weg war, eine Kantine zu finden, hat mich ein junger Einheimischer, Andres, angesprochen und ich habe mich breitschlagen lassen, mit ihm, entgegen meiner Gewohnheit, Englisch zu reden. Der Grund dafür war, daß er mir sagte, daß er gelegentlich als Übersetzer arbeitete. Wir haben den ganzen Nachmittag verplappert, so daß um halb vier weder ein Mittagessen noch die Siesta möglich waren; Er hat mir immerhin einen Laden für einen Snack gezeigt, so daß ich mich wenigstens ein bisschen stärken konnte. Vor dem Abendessen hat er mir noch die Dorfschule von innen gezeigt und wir haben Schulerinnerungen ausgetauscht.
Zurück im Hotel, habe ich den Verlust von vierzig Mark verbuchen müssen, da die Drohungen an der Rezeption fruchtlos waren. Ich gehe davon aus, daß das Zimmermädchen, welches das Zimmer gemacht hatte, mit dem Rezeptionisten unter einer Decke steckte. Ab diesem Zeitpunkt habe ich auf der gesamten Reise alle meine Gepäckstücke abgeschlossen gehalten, wenn ich das Zimmer verließ.
Das Abendessen erwies sich als Flop, weil Andres zu spät zum Treffpunkt kam und ich keine Lust hatte, mehr als zehn Minuten zu warten, da es zu diesem Zeitpunkt bereits dunkel war. Ich bin zuerst Essen und habe mir anschließend in einer tienda ein paar Bier gegönnt. Da hat mich Andres gefunden und in eine alkoholfreie Kneipe geschleppt, in der es außer Videospielen auch Tischtennis gab. Ich bin aber bald zurück ins Hotel und ins Bett gegangen, nachdem ich mich mit den Reiseführern beschäftigt hatte.
Auf der Ostkordillere
Als um halb sechs morgens der Wecker geklingelt hat, hat’s geregnet – und ich habe weitergeschlafen. Da ich am Abend zuvor nicht gepackt hatte, stand ich erst nach neun an der Rezeption, um das Hotel zu verlassen. Wenigstens hatte der Regen bis dahin aufgehört.
Nach zehn steilen Kilometern habe ich an einer Raststätte an der Straße eine Pause gemacht. Den beiden Einheimischen, die ich hier traf – ich vermute, Vater und Sohn –, war ich mit meinen Erzählungen und natürlich dem Fahrrad ein Bier wert. Sie fragten mich nach Deutschland und dem alltäglichen Leben. Dabei kamen wir aufs Kochen zu sprechen. Wir waren uns zwar einig, daß Männer im allgemeinen die besseren Köche seien, aber als ich ihnen sagte, daß die Männer in Deutschland dazu kaum Zeit hätten, weil sie den ganzen Tag arbeiteten und daher die Frauen für sie kochen müssten, schienen sie etwas beleidigt zu sein. Ich führte das darauf zurück, daß sie glaubten, ich würde ihnen, den Kolumbianern, unterstellen, daß sie wenig oder nicht arbeiten wollten. Bei den beiden, sie schienen eine größere finca zu bewirtschaften, hatte ich allerdings schon vorher den Eindruck gewonnen, daß sie sich bei einem Bier von einer Feldarbeit erholten. Als weitere Trinkgenossen auftauchten, bin ich vorsichtshalber weitergefahren.
Die nächsten sechzehn Kilometer ging’s meistens, aber weniger steil als vorher, bergauf, bis ich endlich – im Regen zwar – in Oiba angekommen bin. Entsprechend abwechslungsreich war die Landschaft. Hügelig, mal bewaldet, mal landwirtschaftlich genutzt. Gelegentlich konnte ich den Blick in die Täler rechts und links des Höhenrückens, den ich befuhr, genießen.
Selbst, wenn das Hotel einen neuen und somit guten Eindruck machte, so war es doch viel zu laut und das Zimmer hatte im Bad auf den ersten Blick nicht sichtbare Mängel. Die Leitungen sind nicht dicht! Wenigstens waren die beiden Mahlzeiten im Restaurant drei Häuser daneben schmackhaft. Zu dem Kaff selbst gab’s nichts zu sagen.
Nach der Siesta sprach ich mit zwei Kolumbianern in einer tienda; daher aß ich etwas zu spät zu Abend. Weil aber in dem Restaurant nicht viel los war, habe ich mich bald zum Kartenstudium ins Hotelzimmer zurückgezogen.