Stefan K. Beck, Privatgelehrter und Projektemacher

Tagebuch

5. Coro

Der Weg nach Coro

Ohne Frühstück, weil die Bäckerei erst um acht aufmachte, fuhr ich die Straße Richtung Mirimire weiter. Erst nach mehr als zwanzig Kilometern, in Capadare habe ich gefrühstückt, aber die, streckenweise recht steilen, etwa zweihundertfünfzig Höhenmeter bis dahin, waren auch unter wolkenverhangenem Himmel eine Tortur, wegen der hohen Luftfeuchtigkeit.

Ich blieb etwa eine halbe Stunde zum Frühstück, mit vielen umstehenden Einheimischen. Obwohl die Bürotasche am Lenker offen war, hat sich keiner getraut, hineinzufassen. Nach Kartenerklärungen und Small Talk über Deutschland ging’s fast stetig, aber selten richtig steil bergauf. Quasi um den Berg herum. Der Abstieg durch den Wald in eine wellige Ebene war eine echte Wohltat. Dann die nächste, bewaldete, Hügelkette hoch und die letzten drei Kilometer bergab. Aber in Mirimire selbst kräftig hoch, bis ich auf die Hauptstraße mit dem angekündigten Polizeiposten kam. Gleich dahinter war das Hotel, Norberts Empfehlung. Irgendwas hat mir hier nicht gefallen, schon mittags; obwohl die Pommes, die ich zu Mittag hatte, tadellos waren. Bemüht im Umgang mit den Leuten sind sie hier, aber im sehr einfachen Zimmer war eine acht Zentimeter lange, dicke Kakerlake.

Nach der Siesta das Fahrrad der nötigen Wartung unterzogen und versucht, die weitere Strecke zu planen. Es war zum Kotzen, mal hielt mich das Geld beziehungsweise die Wechselmöglichkeit fest, mal die Wäsche, was sich bereits wieder ankündigte. Später ging ich in einen Laden, um meine Wasservorräte zu ergänzen und mich nach einem kleinen Schloss für eine der Satteltaschen umzusehen. Das, das ich ursprünglich mitgebracht hatte, war kaputtgegangen. Wie ich es gewohnt war, stellte ich mich an und wartete, bis ich an der Reihe war. Aber offenbar ist hier Vordrängen an der Tagesordnung. Nach dem zweiten Vorfall dieser Art habe ich eingegriffen und verlangt, unverzüglich bedient zu werden. Offenbar hatte niemand mit der Vehemenz gerechnet, mit der ich dies einforderte. Daher widersprach niemand und ich bekam sofort, weswegen ich hergekommen war.

Abends saß ich, auch, weil ich sonst nichts besseres in dem kleinen Ort gefunden hatte, wieder im Restaurant des Hotels. Weil ich das gegessene Beefsteak als Enttäuschung bezeichnet habe, bekam ich einen Teller mit kleingeschnittener Bratwurst und Käse umsonst. Außerdem sah ich die ersten Polarbierdeckel und habe ein paar, auf Nachfrage, als Geschenk erhalten.

Nach den Essen einen alten Schwätzer aus dem Ort, der aber immerhin ein Bier bezahlt hat, mit meiner Anwesenheit glücklich gemacht. Ich sei der erste Deutsche, den er träfe, sagte er. Weil er mir so überschwänglich von seiner Kinderflut erzählt hat, habe ich ihn gefragt, was er sich dabei gedacht hat. Altersvorsorge war sein Motiv. Daraufhin habe ich aus dem Fenster gedeutet und ihn gefragt, wie es wäre, wenn er den großen Hügel da draußen allein für seinen Lebensunterhalt nutzen könne. Es gefiel ihm. Also habe ich ihn gesagt, daß alle seine Kinder seinen Hügel gemeinsam nutzen müßten und die Lebensgrundlage daher erheblich schmaler für sie sein würde, als er es gewohnt war. Er behauptete, daß ihm das egal sei. Selbst, wenn er eingesehen hat, worauf ich hinauswollte, so hat er doch stur seine Ansicht vertreten, daß viele Kinder gut seien. Eduardo Galeano in seinen "Offenen Adern Lateinamerikas" zäumt hier meiner Ansicht nach das Pferd von der falschen Seite auf. Natürlich dürfen die Industrieländer den Kinderreichtum der ärmeren Länder nicht kritisieren, aber sie dürfen noch viel weniger ihnen die Möglichkeit nehmen, die wirtschaftliche Grundlage für die Ernährung und Ausbildung vieler Kinder zu schaffen.

Hinter Mirimire gab’s gleich einen satten Anstieg; im weiteren Verlauf erwies sich die Strecke zeitweise doch als unbequem hügelig, weil die Anstiege zum Teil mehrfach hintereinander kamen, ohne daßs die Möglichkeit bestand, bergab Schwung zu holen. An einem der Anstiege habe ich an einer einzeln stehenden Hütte bei einer Kokosnuss verschnauft. Obwohl ich am Ende meiner Kräfte war, habe ich doch die schier endlos erscheinende Strecke durch die trockene, fast vegetationsfreie Ebene, bis zum anvisierten Hotel in Gumacho durch die sengende Sonne geschafft.

An der alcabala, wie hier die Polizeiposten heißen, um die herum eine Anzahl von Geschäften gewachsen war, suchte ich aber das Hotel vergebens. Die Bullen erzählten mir was von weiteren dreißig Kilometern über die Küstenberge, zum nächsten Hotel. Es war zwar erst halb zwölf, aber in der Hitze und bei meinem Erschöpfungsgrad, wäre ich nicht über das vor mir liegende Küstengebirge gekommen. Also sagten die Bullen, sie würden fragen, ob ich nicht auf einem der hier üblichen Pick-Ups mitfahren könne – ich sah keine andere Wahl. Während ich noch versuchte, ihnen zu erklären, daß ich mich erst in einer der umliegenden Kneipen zu stärken gedachte, hatten sie bereits meinen Mann. Es war nicht nur ein Mitarbeiter der Regierung, sondern obendrein einer, der auch noch sein Land liebte und wolle, daß jeder Ausländer einen guten Eindruck mitnähme. Im Beisein der Polizisten wurde noch ein guter Preis für die Unkostenbeteiligung ausgehandelt und dann hoben wir das Fahrrad auf die Ladefläche. Ich sprang hinterher, da außer dem Fahrer vorne noch zwei Frauen mitfuhren, die er mir später als Verwandte vorstellte.

Oben auf der auf der Passhöhe hielten wir an, um die Aussicht aus über fünfhundert Metern Höhe und ein Bier in einer Raststätte zu trinken. Da war eine Langustenfarm am Meer zu sehen. Nachdem er mir die Fahrtkosten erlassen und ich dafür die Bierrechnung übernommen hatte, hat Nestor gefragt, wie weit ich wollte, denn in der Nähe hätte es auch eine von Deutschen geführte Ranch im Gebirge gegeben, auf der ich hätte übernachten können. Bis Coro, der Hauptstadt des Bundesstaates Falcon, erschien mir aufgrund der bisher erlittenen Verzögerungen und auch wegen Wäsche, Geldwechsel vor dem bevorstehenden Wochenende das Beste. Am Restaurant am Paß hat Nestor einen Freund aufgeladen, der bei mir hinten saß und sich als Maler und Bildhauer entpuppte, der, inspiriert durch die ihn umgebenden Tertiärfossilien, kurz vor Coro im Sandstein, kräftig geologisch interessiert war. Und wir haben über Schach geredet. Wir haben ihn an seinem Haus, etwa fünfundzwanzig Kilometer vor Coro abgesetzt, wobei wir fast noch das Fossilmuseum um die Ecke gekriegt hätten, wenn nicht gerade Mittagspause gewesen wäre.

Santa Ana de Coriana

Die im Reiseführer empfohlene Pension war ein Flop, was ich aber erst rausgekriegt habe, als Nestor bereits weg war, weil der Besitzer mich in ein Gemeinschaftszimmer stecken wollte. Zurück zur Calle Zamora; Denen paßte aber das Fahrrad nicht. Also fuhr ich die Straße weiter, zum Hotel Coro. Hier wollten sie in mein Zimmer, als ich Siesta hielt, aber es war zu gut verschlossen. Weil die Klimaanlage unzureichend war, fing ich mir erneut ein paar Flohbisse ein. Außerdem wollten sie auch nicht waschen. Daher beschloß ich, am nächsten Tag in ein besseres Hotel zu ziehen.

Auf dem Weg dieses zu erkunden, lief mir Nestor über den Weg. Ich erkannte den schwarzen Ford-Kleinlaster sofort wieder. Er hat angehalten, mich ins bessere Hotel gebracht, nachgefragt und geholfen. Dann sind wir zur Touristeninformation, um erstes Infomaterial zu bekommen. Da es aber schon spät war, mußte das Gespräch vertagt werden. Danach haben wir uns auf die Suche einem Internet gemacht. Als wir’s in einem Einkaufszentrum gefunden hatten, habe ich ihm und seiner zwischenzeitlich abgeholten Braut, Yanet, sie ist Journalistin bei einer örtlichen Tageszeitung, noch einen Drink ausgegeben.

Den Vormittag habe ich mit Geldwechsel und dem Umzug in ein anderes Hotel verbracht. Nur auf der Bank habe ich es erlebt, daß sich Südamerikaner anstellen, sonst ist das Vordrängen ein Volkssport. Allerdings waren die Banken auch immer recht voll. Das lag zum Teil daran, daß man hier selbst wegen winziger Beträge, die in Europa als Handgeld gelten könnten, die Geldinstitute aufsucht. Ich war jedenfalls nicht überrascht, gut eine Stunde in der immerhin klimatisierten Schalterhalle zu verbringen. Beim Finden einer geeigneten Bank ist der Reiseführer unersetzlich, da nur die allerwenigsten Banken Devisengeschäfte abwickeln und die Einheimischen, die nie mit derartigen Transaktionen befaßt sind, in der Regel keine Ahnung haben, welche Banken dafür in Frage kommen.

Mit dem Hotel war ich sehr zufrieden. Das Zimmer war, wenn auch nicht übermäßig groß, doch angenehm eingerichtet, das Bad hatte heißes Wasser und es gab einen Fernseher. Daß das Zimmer ebenerdig in einem ruhigen Innenhof lag, war für die standardmäßige Unterbringung des Fahrrads im Zimmer von Vorteil.

In einem Einkaufszentrum fand ich einen Verkaufsstand, der „Frankfurter“ Hot Dogs anbot. In einem länglichen Weißmehlbrötchen steckte ein winziges Würstchen, das in der Unzahl von teilweise sogar süßen Soßen geradezu ertrank. Da half das Überstreuen mit Maismehlchipbröseln auch nichts mehr. Das schrie geradezu nach einem Bieren zum runterspülen. Hinzu kam, daß es hier noch heißer ist, als ich es bisher erlebt habe. Allerdings war auch die Luftfeuchtigkeit sehr gering und das machte die Temperaturen von über vierzig Grad erträglicher. Ich ging also in eine klimatisierte Kneipe und kühlte den Hals mit Polar, bevor ich im Hotel meine Mittagsruhe hielt.

Nach der Siesta habe ich ein anderes Internet gefunden. Hier war die Verbindung schneller. Weil der Versuch am Vortag zu kurz ausfallen mußte, habe ich fast zwei Stunden geschrieben.

Das Abendessen zu finden erwies sich als schwieriger, als gedacht. Die Empfehlung des Fremdenverkehrsamtes war zu. Trotzdem habe ich noch was akzeptables gefunden. In einem Innenhof in der Altstadt fand ich ein Restaurant, das mir zusagte. Auch das Essen war durchaus gut. Vor dem Einsetzen der peña, einer Live-Folkloredarbietung, konnte ich mich allerdings noch retten.

Den Vormittag habe ich mit Kultur verbracht, die es im alten Ortskern zuhauf gibt. Es gibt zwar keine Gebäude mehr aus der Gründungszeit der zweitältesten Stadt Venezuelas, die 1527 gegründet wurde und die auch die erste Hauptstadt war. Zum Wirken der Deutschen in Venezuela zu dieser Zeit, das von hier ausging, habe ich eine Übersicht verfaßt.

Die UNESCO hat zurecht die Kolonialbauten, zumeist aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, zum Weltkulturerbe erklärt. Die spanische Architektur, mit wenigen niederländischen Einflüssen, mag dem unbedarften Westeuropäer auf den ersten Blick – in Vergleich zu zeitgleichen Prachtbauten aus seiner Heimat – etwas kümmerlich erscheinen, weil es keine Stein-, sondern Lehmziegelgebäude sind, der Stuck an und in den Häusern ist jedoch durchaus vergleichbar. Und die klerikale Bauweise, ab einer bestimmten Monumentalität jedenfalls, hat sowieso überall nur lokale Ausprägungen ein und desselben Stils.

Das Diözesenmuseum neben der San Francisco Kirche enthielt in den im Originalstil hergerichteten Räumen, Kirchenreliquien, alte Gemälde und Möbelstücke, die von örtlichen Kirchenfürsten benutzt worden waren. Coro war die erste Diözese, die auf dem südamerikanischen Kontinent gegründet wurde. Die erste der neuen Welt entstand in Santo Domingo.

Das Casa de los Arcaya mit seinem überdachten, um die Ecke gehenden Balkon sit zu einem Museum umgebaut. Hier wurden verschiedene, auch indigene, Keramiken ausgestellt, die aber höchstens kolonialzeitlich waren. Weiterhin gab es eine Abteilung für Tertiärfossilien aus der Umgebung. Beeindruckend waren das große Krokodil und das Gebiß eines Mastodonten. Der Wärter stand für spanische Erklärungen gern zur Verfügung. Als ich ihm sagte, daß ich Geologe sei, hat er mir von einer Exkursion berichtet, die für den nächsten Tag angesetzt war. Feldarbeit, mit einem führenden Paläontologen in der näheren Umgebung, hatte mich natürlich sofort gereizt.

Im Casa de las Ventanas de Hierro, dem Haus der Eisernen Fenster, war ein weiteres Museum untergebracht. Es heißt deswegen so, weil der Bauherr, anstatt der üblichen Holzgitter vor den Fenstern aus Europa teure Eisengitter importiert hat. Wenn man sich vor Augen führt, daß Coro im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert häufig das Ziel von Piraten war, eine nachvollziehbare Maßnahme. Auch hier waren koloniale Einrichtungs- und Gebrauchsgegenstände zu sehen. Im Hof stand eine restaurierte Kutsche. Die hier ausgestellten Exponate vermittelten viel vom tatsächlichen Leben während der Kolonialzeit. Mich haben besonders die alten Bücher im letzten Raum beeindruckt.

Das Casa de los Torres zeigte eine ungewöhnliche Pflasterung im Eingangsbereich: Rinderknochen sind zwischen die Steine eingelassen. Wie bei allen Kolonialhäuser hat mich auch hier der Innenhof begeistert.

Am Nachmnittag habe ich nach schnellen Wegen aus Venezuela gesucht, da aber meine Informationen dafür noch unzureichend waren, beschloß ich, am Montag die Touristeninformation aufzusuchen.

Abends suchte ich mal wieder nach einem zufriedenstellenden Restaurant. Gefunden habe ich ein teures Lokal, dessen Ambiente ziemlich erlesen war. Es standen sogar alte Ritterrüstungen herum. Die sehr wenigen Gäste hätten mich allerdings stutzig machen müssen. Ich kann zwar nicht behaupten, daß es nicht geschmeckt hätte, aber richtig zufrieden war ich auch nicht.

Bald nach dem Essen, zurück im Hotel, habe ich mich kurz und wenig übergeben. Die ganze Nacht hat mich Durchfall gequält. Mein Fernet Branca war leider schon aufgebraucht, aber ob der gegen Lebensmittelvergiftungen noch helfen kann, sei dahingestellt.

Den ganzen nächsten Tag Durchfall gehabt, obwohl ich die Hoffnung hatte, daß es nach dem Frühstück aufhören würde. Das hat mich gezwungen, mich immer in der Nähe des Bads aufzuhalten. Daß ich an der Exkursion mit den Paläontologen nicht teilnehmen konnte, hat mich besonders geärgert.

Nachdem ich mich morgens in der Bäckerei gegenüber über die frechen Preise für Ausländer hatte ärgern müssen, bin ich zum Busbahnhof gefahren und fragte, ob ich mit Fahrrad und Gepäck nach Maracaibo fahren konnte. Die Informationen beim Fremdenverkehrsamt waren nicht sehr ermutigend gewesen: ein Hotel auf den zweihundertvierzig Kilometern war nicht ausreichend und mein Vertrauen zu den Venezolanern war zu gering, um zu zelten. Aber das war nur vordergründig. Es ging hier um weit mehr.

Am späten Vormittag bin ich die erste Runde ins Netz. Nachdem ich die Wäsche in Auftrag gegeben hatte, hielt ich Siesta. Am Nachmittag war ich erneut im Netz, um meine Frustration an der Mail-Gemeinde auszulassen. Nach dem Einkauf kehrte ich ins Hotel zurück. Hier ließ ich mir ein Restaurant empfehlen. Die Rezeptionsdame vom Hotel hatte mir den Weg dahin gezeigt. Im La Barra de Jagal habe ich hervorragend gegessen. Eine Grillplatte mit yuca. Die chorizo, bei uns hieße das Bratwurst, war fast, wie daheim. Zur Sicherheit habe ich Rotwein getrunken, auch wenn der recht teuer war. Das war ein versöhnlicher Abschluss für Coro.


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