Stefan K. Beck, Privatgelehrter und Projektemacher

Unabhängigkeit

Kapitel 12.a. Venezuela: Die Zentrumskampagne und ihre Auswirkungen

Nachdem Bolivar Anfang Dezember des vergangenen Jahres in der Schlacht von La Hogaza einen Gutteil seiner Truppen eingebüßt hatte, kamen die europäischen Söldner, die nach dem Ende der Koalitionskriege gegen Napoleon von Luis Lopez Mendez in London angeworben worden waren, wie gerufen, um sein dezimiertes Heer zu verstärken. Die Europäer, zumeist Engländer, waren besser geschult als die Südamerikaner und verfügten über Kampferfahrung. Die Legion Britannica war gut ausgerüstet und zahlenmäßig relativ stark, aber die Männer mußten sich erst an die Bedingungen in Venezuela gewöhnen. Die erste Welle verließ am letzten Tag des Jahres 1817 Angostura und folgte in einem von Pablo Morillo, dem spanischen Oberbefehlshaber hochgeschätzten Marsch dem Orinoko flußaufwärts in die Apure-Region. Ihre Ausrüstung wurde auf den Schiffen von Luis Brion transportiert.

Bis zum Eintreffen der Truppen sollte José Antonio Paez die Spanier dort zurückdrängen, damit die aus verschiedenen Landesteilen eintreffenden Truppen sich ungestört vereinigen konnten. Ende Januar trafen sich Bolivar und Paez auf einem Landgut rund 40 Kilometer südlich von San Fernando de Apure. Hier bereiteten sie die Campaña del Centro (Zentrumskampagne) vor, die Anfang Februar begann. Mit zweitausend Reitern und dreitausend Infanteristen zog Bolivar nach Norden. Francisco Aramendi erbeutete mit einigen Reitern die zur Überquerung des Rio Arauca nötigen Boote am 06. Februar an dem Paso del Diamante genannten Übergang.

Pablo Morillo verfügte zwar über fast dreimal so viele Soldaten, aber diese waren über Venezuela verteilt, sodaß er in Calabozo mit seiner Truppe nur etwa die Hälfte der Stärke der Patrioten erreichte. Er hatte, als er vom Anmarsch der Patrioten erfuhr, zwar sofort nach Verstärkungen geschickt, aber wegen der großen Distanzen, die sie zurücklegen mußten, wußte er, daß Bolivar schneller sein würde. Dieser ließ 1500 Soldaten zur Belagerung von San Fernando zurück und zog in Eilmärschen Richtung Norden, auf Calabozo.

Am 12. Februar erreichten die Separatisten das spanische Hauptquartier und attackierten. Die Spanier hatten zwar nicht unbeträchtliche Verluste zu beklagen, aber bis zum Einbruch der Nacht schafften sie es, die Stadt zu halten. Um einen Ausbruch Morillos in der Nacht zu verhindern, befahl er Paez, seine Reiter um die Stadt zu postieren. Da die Llaneros ihre Aufgabe zu wenig ernst nahmen, konnte Morillo mit immerhin 1400 Mann aus der eigentlich sicheren Falle entkommen.

Paez erhielt mit seiner Vorhut die Chance, die Fliehenden zu verfolgen, um den Fehler zu korrigieren, aber bei den Gefechten am 16. und 17. ließ Paez seine gewohnte Entschlossenheit vermissen, und Morillo entkam nicht nur, er konnte auch weitere Truppen inkorporieren. Bolivar, zu Recht unzufrieden mit Paez, kritisierte diesen, und Paez zog sich zurück. Er nahm zwar San Fernando de Apure am 07. März ein, aber der gefährlichere spanische Oberbefehlshaber war nun zu einer Bedrohung für den Erfolg des gesamten Feldzugs geworden.

Bolivar bezog unweit südlich der La Puerta-Schlucht, in El Sombrero, Stellung, aber er wußte, daß er Morillo an der Aufnahme weiterer Verstärkungen hindern mußte, oder schnell Caracas erobern, wollte er den Feldzug nicht vorzeitig beenden. So schickte er Pedro Zaraza nach Valencia, weil Morillo dort auf die Ankunft der 5. Division von Sebastian de la Calzada aus den Merida-Anden wartete. Zaraza konnte nicht verhindern, daß Teile der Division zu Morillo stießen. Er konnte auch die Stellungen am Cabrera-Paß gegen die weit überlegenen Spanier nicht halten. Er wurde auf dem Rückzug bei Maracay geschlagen. Bolivar, der inzwischen auf Caracas marschiert war, mußte umkehren und sich zurückziehen, da die Eroberung von Caracas nun keinen strategischen Vorteil mehr brachte. Auf dem Rückzug, im Morgengrauen des 16. März, an dem Bach El Semen, der in der La Puerta-Schlucht fließt, stellte Morillo die Patrioten.

Diese, und insbesondere Bolivar, leisteten tapfer Widerstand, und hätten das Treffen möglicherweise sogar für sich entscheiden können, wenn die Spanier nicht mitten in der Schlacht Verstärkungen bekommen hätten. Morillo selbst führte die neuen Truppen ins Gefecht, womit er den Ausschlag gab. Die Separatisten verloren rund 1000 Mann, aber Morillo war verletzt und mußte Miguel de la Torre den Oberbefehl überlassen. Aber auch die Spanier hatten nicht insignifikante Verluste hinnehmen müssen. Daher verzichteten sie auf eine Verfolgung, was Bolivar die Gelegenheit gab, seine 600 Versprengten wieder einsammeln.

Manuel Cedeño hatte inzwischen Paez davon überzeugen können, daß er zu Bolivar zurückkehrte. Mit nunmehr zweieinhalbtausend Kämpfern rückten die Patrioten erneut vor. Er wußte, daß sich Miguel de la Torre mit nur rund 1000 Mann bei Ortiz, etwa 35 Kilometer südlich von San Juan de los Morros, eingegraben hatte. Die restlichen Truppen der Spanier befanden sich im Hinterland verteilt. Am 26. befahl Bolivar den Angriff, um den Feldzug vielleicht doch noch retten zu können, aber wegen Koordinationsmängeln kam es nur zu einem kleinen Gefecht, das die Spanier nicht in Bedrängnis bringen konnte.

Der Feldzug war damit endgültig gescheitert. Bolivar postierte sein Heer unter dem Kommando von Paez etwa 60 Kilometer nördlich von Calabozo und sammelte versprengte Truppen ein. In der Nacht des 17. April griff eine von de la Torre instruierte Truppe Bolivar in seinem Feldlager im Rincon de los Toros (Winkel der Stiere) an. Der Befreier entging dem Anschlag auf sein Leben nur knapp und seine gleichzeitig attackierten Soldaten verloren das letzte Gefecht der Kampagne.

Während Bolivar nach Angostura zurückkehrte, bereitete de la Torre die Rückeroberung der verlorenen Gebiete vor. Im Mai schlug er Paez, der seine Stellungen aufgeben mußte. Den sich zurückziehenden Patrioten schickte er einige Abteilungen nach, die sie endgültig zerschlugen. San Fernando de Apure fiel an die Spanier zurück, und die verbliebenen Llaneros sammelten sich erneut südlich des Rio Apure, wo der Feldzug begonnen hatte. Wegen der beginnenden Regenzeit und der für beide Seiten anstrengenden Kampagne, fanden sich beide Seiten mit dem Status Quo ab, und hofften auf die nächste Saison.

Im Osten hatte der Widerstand gegen die Spanier eine Renaissance erlebt, zumal mit der Insel Margarita ein Stützpunkt erhalten geblieben war. Noch vor seinem Abmarsch nach Westen hatte Bolivar Santiago Mariño, der Reue gezeigt und sich Bolivar unterworfen hatte, zum Chef des Ostheeres gemacht. In dieser Funktion sollte er die spanischen Truppen beschäftigen, auch damit Bolivar seine Zentrumskampagne ungestört durchführen konnte. Von Margarita aus unternahm er einen Landungsversuch bei Cariaco im März. Die Stadt konnte er zwar nicht einnehmen, aber blieb auf dem Festland eine Bedrohung für die Kolonialmacht.

José Francisco Bermudez war nach einem Sieg von lokalen Patrioten im Hinterland von Cumana im Januar aus Angostura aufgebrochen und hoffte mit der Unterstützung der örtlichen Patrioten Cumana einnehmen zu können. Diese Hoffnung mußte er am 30. Mai begraben, als sein Angriff im Holzhafen der Stadt steckenblieb. Er zog sich nach Angostura zurück und bereitete dort eine Landungsoperation auf der Halbinsel Paria vor. Zusammen mit Brions Stellvertreter Antonio Diaz, der sich bei dem Flußgefecht von Cabrian (zur Erlangung der Kontrolle über den unteren Orinoko) im vergangenen Jahr hervorgetan hatte, gelang Bermudez die Eroberung von Güiria. Der Sieg brachte neben immerhin 16 erbeuteten spanischen Schiffen, auch die Möglichkeit, sein Heer mit Freiwilligen zu verstärken, auch wenn der lange Krieg auf der dünn besiedelten Halbinsel nicht mehr viele Gelegenheiten dazu gelassen hatte. Da er jedoch Mitte September vor dem Hafen Rio Caribe scheiterte, konnte er nicht zu Mariño vorstoßen, der daher bei seinen Versuch am 30. Oktober auf Cariaco erneut scheiterte. So endeten beide Kampagnen erfolglos und die Patrioten mußten sich zurückziehen.

Nach seiner Rückkehr nach Angostura, analysierte Bolivar, auch mit der Hilfe seiner europäischen Offiziere, das Scheitern der Zentrumskampagne. Daraus resultierte die Erkenntnis, daß die vier spanischen Divisionen in Venezuela schwerer zu besiegen sein würden, als die eine auf der kolumbianischen Ostkordillere. Daher entwarfen Bolivar und sein Stab den Plan, nach Neugranada zu ziehen, und das Land zu befreien. Neben den bei einem Sieg zu erwartenden Ressourcen für die Kriegsführung, konnte auch die Moral des bisher nicht ernsthaft gefährdeten Expeditionskorps der Spanier leiden, und so entschloß man sich zu dieser Variante. Bolivar schickte Francisco de Paula Santander mit 1000 Gewehren und Munition, sowie einer Proklamation nach Casanare, um den Feldzug dort vorzubereiten. In der Bekanntmachung vom August versprach Bolivar den Neugrenadinern binnen Jahresfrist die Befreiung. Santander sollte die Vorhut für das Heer Bolivars aufstellen und trainieren, damit beim Eintreffen des Libertadors die Kampagne zur Befreiung Neugranadas beginnen konnte.

Bolivar beschäftigte sich in der zweiten Jahreshälfte mit dem Aufbau des Staatswesens, zumal er eine beträchtliche Vergrößerung plante. Dazu ließ er auch Wahlen abhalten. Sein Parlament diente ihm aber hauptsächlich dazu, seine Maßnahmen abzusegnen und ihm außerordentliche Vollmachten zu erteilen. Im Krieg haben solche Maßnahmen sicher ihre Berechtigung, auch ohne auf das warnende Beispiel des neugrenadiner Föderalismus zu verweisen. Zum Jahresende lud Bolivar zum Kongreß nach Angostura, der am Beginn des folgenden Jahres die politischen Grundlagen zur Einverleibung Neugranadas in sein Großkolumbien schuf.



Fortsetzung: Kap. 12.b. Neugranada: Silberstreif am Horizont



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