Stefan K. Beck, Privatgelehrter und Projektemacher

Tagebuch

63. Ocros

Einigermaßen brauchbare Voraussetzungen

Da ich sonst nirgends ein Frühstück um acht Uhr fand, ging ich ins nahegelegene Hotel Alamos. Daß es ziemlich teuer war, ohne deswegen in europäischem Sinn den Namen verdient zu haben, war noch hinzunehmen, aber daß es mir stundenlang wie ein Stein im Magen lag, empfand ich als unverschämt.

Ich verließ die Stadt über Jiron Mariscal Castilla und Avenida Cuzco und kam auf eine holprige Piste, auf der der Schlamm, den der Regen in der Nacht erzeugt hatte, nur stellenweise getrocknet war. Wenigstens das wurde im Verlauf der Fahrt besser. Die Straße selbst jedoch nicht. Einen weiteren, letzten Vorteil konnte ich durch die zähen Wolken verbuchen, die mir die Sonne vom Leib hielten. Die Straße, die gelegentlich ziemlich steil war, wand sich durch Erosionsrinnen, die den Weg zusätzlich verlängerten, auf ein erstes Hochtal, von dem aus ich eine tiefe Schlucht zu meiner Linken hatte.

Zum Toccto-Paß

Nach dem Mittagessen, das aus Brötchen und Thunfischdosen bestand, die ich mitführen mußte, weil es keine Einkaufsmöglichkeiten gab, erreichte ich eine weitere Hochfläche, die langsamer anstieg. An deren Ende sah ich den letzten, entscheidenden Aufstieg. Auf der gesamten Fahrt durch Südamerika, habe ich die vielen Anstiege, die ich zu bewältigen hatte, immer verflucht, aber ab hier erlebte ich eine neue Qualität.

Das Halten des Fahrrhythmuses wurde durch die saumäßige Qualität der Piste immer schwieriger und entsprechend stieg meine Erschöpfung. Hier einen Stundenschnitt von etwa sechs Kilometern zu überschreiten, war bei den gut fünfundvierzig Kilo Gepäck, die ich mitführte, nicht drin. In Ayacucho hatte ich den Kilometerstein 125 gesehen; beim Kilometerstein 161 verlor ich Kraft und Motivation, mich derart zu quälen. Während ich versuchte, wieder zu Atem zu kommen, kam einer der seltenen LKWs vorbei. Ich hielt ihn an und lud das Fahrrad mit Hilfe der Mitfahrer auf die, mit einem Holzzaun umgebenen Ladefläche und fuhr mit ihnen etwa zehn Kilometer die Serpentinen, die zum Toccto-Paß führten hinauf.

An der Weggabelung am Paß, wo sich ein etwas vernachlässigt aussehendes Haus befand, verließ ich den LKW, bezahlte und verabschiedete mich von den Mitfahrern. Der Höhenunterschied zu Ayacucho betrug hier fast fünfzehnhundert Meter. Ich hatte sicher weit über tausend davon an diesem Tag selbst bewältigt. Durch die páramo-Landschaft mit ihrem kurzen, aber grünen Gras fuhr ich noch fast zehn Kilometer auf der welligen Strecke, bis es einerseits Zeit wurde, Quartier zu machen, weil der Tag sich dem Ende zuneigte und ich andererseits einen günstigen Platz dafür, etwas abseits der Straße, finden mußte.

Auf dem Weg hielt ich einmal kurz an, als ich eine Quelle am Straßenrand sah. Hier, auf etwa viertausendzweihundert Metern über dem Meer, schien es mir trotz der Menschenleere nötig, mein Wassers zu filtern. Ich hatte lediglich einen Hirten mit einigen Kühen aus der Entfernung gesehen.

Camp auf viertausend Metern

Ich fuhr also querfeldein, um hinter einem Hügel, der mich von den Blicken eventuell vorbeifahrender Fahrzeuge schützte, eine halbwegs ebene Fläche für den Aufbau des Zelts zu finden. Ich machte mich sofort an den Aufbau des Zeltes, denn die Dämmerung setzte ein. Wäre ich nicht auf den LKW gesprungen, hätte ich es wahrscheinlich gerade mal in die Nähe des Hauses geschafft.

Hier in der freien Natur, war mir die Übernachtung lieber. Bis ich meine Sachen im Zelt verstaut hatte und das Abendessen, Nudeln zusammen mit einer Maggi-Soße in einem Topf gekocht, einnehmen konnte, war es bereits sieben Uhr und dunkle Nacht.

Naja, ganz so dunkel war es nicht, denn der Sternenhimmel leuchtete in der klaren, kühlen Luft viel heller, als ich es von Europa gewohnt war. Während ich bei einer selbstgedrehten Zigarette und etwas Rum vor dem Zelt saß, sah ich im Osten ein helles Licht. Ich konnte mir nicht erklären, was die Ursache für das diffuse Leuchten in den dort aufziehenden Wolken war, denn eine größere Stadt gab es hier nicht. Erst, als der Vollmond sich weit genug über den Horizont geschoben hatte, erkannte ich ihn. Nachdem ich mich noch etwas mit dem überwältigenden Sternenhimmel befaßt hatte, kroch ich, auch der zunehmenden Kälte wegen in meinen Schlafsack. Hier schrieb ich einige Zeilen ins Tagebuch, bevor ich mich endgültig zur Ruhe begab.
Nach einer ruhigen, aber kühlen Nacht, verpackte ich meine Ausrüstung, frühstückte und fuhr erst gegen neun Uhr weiter.

Pannenhilfe

Es gab zwar fast keinen Verkehr, aber nach einer knappen halben Stunde auf der furchtbaren Piste, die sich immer wieder über kleinere Hügel hinzog, traf ich auf einen liegengebliebenen Geländewagen. Den beiden Männern und der Frau war ein Reifen geplatzt und in ihrem Mietwagen befand sich kein Werkzeug, um den recht kompliziert unter dem Fahrzeug befestigten Ersatzreifen zu lösen. Die beiden Männer, eindeutig Peruaner, hielten mich an und fragten mich nach Werkzeug. Ich stieg ab und wir untersuchten mein Werkzeug darauf, ob es ihnen den Ersatzreifen losbekommen würde.

Die Frau, die mit den beiden Männern unterwegs war, sagte lange nichts, obwohl sie bemerkt haben mußte, daß ich Deutscher war, denn sie war selbst Deutsche. Erst, als einer der Männer es mir sagte, war sie, wenn auch etwas zögernd, bereit, sich an den Gesprächen zur Lösung des Problems mit dem Ersatzreifen zu beteiligen. Wir Männer hatten mit verschiedenen Werkzeugen, die alle nicht für diesen Zweck gemacht waren, unter dem Auto gelegen, bis nach gut einer halben Stunde die Halterung ihren Widerstand aufgab und wir den Reifen wechseln konnten.

Mit den beiden Männern trank ich zum Abschied einen Tee, den uns die Frau, die sich irgendwie zu schämen oder genieren schien, einschenkte. Ich hatte nur sehr wenige Sätze mit ihr auf Deutsch gesprochen und nicht nach dem Woher oder Wohin gefragt. Die beiden Männer waren allerdings schon neugierig, wie denn ein Radfahrer in diese verlassene Gegend käme. Sie bedankten sich herzlich und während ich meinen Weg fortsetzte, verschwand ihr Wagen vor mir hinter der nächsten Biegung.

Auf dem kalten Gebirge

Obwohl ich beim Kilometerstein 189 einen Paß erreichte, erschien mir die Höhe, die immerhin viertausendvierhundert Meter betragen sollte, nicht erreicht zu sein. Aber es ging bergab. Vorbei an einigen Hirten und ihren Kühen erreichte ich einen geschützten Talkessel, in dem die Hirten mit ihren Familien wohnten.

Über die Piste, die im Tal schlammig war, gelangte ich über einige Anstiege, die im Verlauf des Weges immer steiler wurden, zum Kilometerstein 211. Hier, auf 4400 Metern über dem Meer war der eigentliche Paß. Vorher hatte ich einige Male die Aussicht auf die umliegenden Berge genießen können, aber in der Nähe des Passes wurde es immer wolkiger und bald fuhr ich im Regen, der von Hagelschauern unterbrochen wurde.

Nach dem Paß machte ich eine Pause, um mich zu stärken, aber der kalte Regen ließ mich schnell wieder weiterfahren. Der stellenweise dichte, kalte Nebel legte sich über mich und ich begann trotz der Bewegung zu frieren. Und ausgerechnet in dieser Suppe traf ich die wenigen Fahrzeuge dieses Nachmittags, zwei Reisebusse und zwei LKWs. Sie kamen mir alle entgegen, überholt hat mich keiner.

Es dauerte eine Weile, bis ich den Wolkennebel hinter mir gelassen hatte und mich die Strahlen der Sonne wieder etwas aufwärmten. Und damit konnte ich auch sehen, was auf der gut dreißig Kilometer langen Abfahrt vor mir lag. Ich blickte in ein V-förmiges Tal, in dessen Mitte sich einige steile Hügel befanden. Am Ende des Tals, hinter dem Ort Ocros, der mein Tagesziel war, sah ich ein weiteres, tiefeingeschnittenes Tal, das quer verlief. Dieses Tal, wußte ich, lag mindestens zweitausend Meter unter mir. Der Anblick war überwältigend.

Ich suchte, die grünen Hänge mit den Augen ab, um den Straßenverlauf zu finden. Wie erwartet wand sich die Straße am links neben mir liegenden Ende des Tals von Ocros in Serpentinen tiefer, um dann in den Ort den ich in etwa acht Kilometern Luftlinie rechts von mir sah, zu münden. Natürlich gab es wieder zu wenig Brücken und natürlich wurde jede Erosionsrinne voll ausgefahren. Die Abfahrt selbst war wegen der miserablen Straßenverhältnisse alles andere, als ein Vergnügen. Ich durchfuhr wieder die bekannten Vegetationszonen, bis ich ins Tal gelangte, wo ich wegen des Finanzmangels im Straßenbau und der Unfähigkeit der Straßenbauingenieure einige Hügel, die ich von oben gesehen hatte, zumindest halb überqueren mußte. In den letzten Kilometern vor dem Ort nahm der Verkehr etwas zu, war aber immer noch insignifikant.

Die Bullen von Ocros

Gegen vier Uhr nachmittags erreichte ich das Nest. An der ersten tienda nahm ich ein wohlverdientes Bier. Der Ort war klein genug, um ohne Schwierigkeiten die Polizeistation an der Plaza de Armas zu finden, die mir in Ayacucho avisiert worden war. Mitten auf dem Platz steht ein lebensgroßes Denkmal für Andrés A. Cáceres, der hier geboren wurde.

Ich begab mich sofort in den Polizeiposten und sprach mit den Männern. Der Chef bot mir von sich aus an, bei ihnen auf dem Revier zu übernachten. Ich gab daraufhin zu, diesen Tipp von dem Touristenpolizisten in Ayacucho erhalten zu haben. Weil ich mich aber zu lange mit den beiden Männern in der Polizeistation unterhielt, schaffte ich nicht rechtzeitig, unter die Dusche zu kommen.

Einige weitere Bullen, die irgendwo Fußball gespielt hatten, waren schneller und hinterher war das Wasser nur noch lauwarm. Wo sie in diesem welligen Gelände einen Sportplatz hatten anlegen können, war mir allerdings ein Rätsel. Toilette und Dusche, die sich in einem Hinterhof gegenüber befanden, waren, wenn auch nicht besonders schmutzig, so doch äußerst primitiv. Der Polizeichef wollte mich zum Abendessen einladen, aber anticuchos, das sind gegrillte Rinderherzen, waren nicht nach meinem Geschmack. So ging ich in ein Restaurant am Waffenplatz, in dem immerhin der Wirt sofort einen seiner Söhne zum Bier holen schickte. Auch gegessen habe ich dort gut. Die Bullen hatten es mir als das hygienischste am Ort empfohlen.

Am Nebentisch saß ein Paar, Mitte bis Ende Zwanzig, mit einem ungefähr fünfzehnjährigen Mädchen, das ich eigentlich für zu alt hielt, um deren Tochter zu sein. Sie baten mich, ihnen Gesellschaft zu leisten. Gustavo, stellte ich als Mikrobiologe am örtlichen Krankenhaus vor und auch Isabella, seine Frau, war dort beschäftigt. Wir unterhielten uns gut und Karina, das junge Mädchen, holte uns mehr Bier. Roberto, der Kneipier, gesellte sich zu uns und gab mir einige Hinweise für den weiteren Weg. Schließlich verabschiedeten wir uns, in dem Bedauern, das Gespräch nicht später fortsetzen zu können und ich ging zum Polizeiposten, wo man mir ein Einzelzimmer mit einer Matratze anbot.

Ich war nicht besonders früh aufgestanden und hatte gepackt. Beim Frühstück im Restaurant vom Vorabend traf ich Gustavo und Isabella, die ebenfalls beim Frühstück saßen, bevor sie zur Arbeit in ihrer Krankenstation gingen. Das Gespräch fiel deswegen kurz aus, weil sie zur Arbeit und ich auf die Straße mußte. Ich bedankte mich noch beim Polizeichef und sattelte dann auf.



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