Stefan K. Beck, Privatgelehrter und Projektemacher

Tagebuch

61. Vilcashuamán

Anfahrt

Es war noch dunkel, als ich mich um kurz nach fünf Uhr auf den Weg zu dem Kleinbus machte, der mich nach Vilcashuamán bringen sollte. Ich mußte eine Weile suchen und schaffte es, kurz vor der Abfahrt den richtigen Bus zu finden. Einige Fahrgäste forderten, daß ich, der Tourist, einen guten Sitzplatz erhalten solle und tatsächlich stand ein junger Mann, der einen Einzelsitz am rechten Fenster hatte, auf und überließ mir seinen Platz. Ich bedankte mich höflich und ausführlich, dann fuhr der Bus auch schon los.

Im Stadtgebiet stiegen weitere Fahrgäste zu, die teilweise Hühner in den Fahrgastraum und Schafe, denen man die Beine zusammengebunden und aufs Dach gelegt hatte, mitbrachten. Ich war froh, in der Enge einen guten Platz zu haben. Im Licht des beginnenden Tages fuhr der Bus etwa eineinhalb Stunden lang durch die beeindruckende Berglandschaft von einer Hochebene zur nächst höheren. Anfangs konnte ich im Tal die Lichter des erwachenden Ayacucho in der Morgendämmerung sehen. Später verschwand die Stadt aus meinem Blickwinkel und das Panorama wurde von den umliegenden Bergen, die teilweise von Wiesen und Nadelwäldern bedeckt waren, dominiert. Am über viertausendeinhundert Meter hohen Toccto-Paß, wo es nur noch mehr oder weniger grünes Gras gab, ahnte ich, was mit dem Fahrrad auf diesem ungeteerten Feldweg, der stelleweise riesige Schlaglöcher hatte, auf mich zu kam, aber ich verdrängte den Gedanken. Vorsichtshalber.

Der Bus fuhr noch einige Kilometer weiter und machte dann eine Zwangspause in Condorcocha, damit die Tiere abgeladen werden und die Fahrgäste sich die Beine vertreten konnten. Zu diesem Zeitpunkt lag erst die Hälfte der Strecke hinter mir. Die Fahrt ging weiter über die eher steinige, als grüne páramo-Hochfläche über ungesicherte Bäche und eine ziemlich unmotivierte Brücke weiter. Der Weg verlor an Höhe und führte in ein Hochtal auf etwa dreieinhalbtausend Metern, das von gut tausend Meter höheren Bergen eingerahmt war. Am Übergang dazu, einen Viertausend-Meter-Paß, an den sich ein Nationalpark für puya raimondi, einem beeindruckenden Ananasgewächs, anschloß, war die Aussicht in der Morgensonne überwältigend. Ich schätze, daß ich bestimmt hundert Kilometer weit in der klaren Luft sehen konnte.

Allein die Fahrt schien mir die beschwerliche Tour wert zu sein. Die Anzahl der Brücken erhöhte sich zwar etwas, aber es gab immer noch genügend Bäche, durch die der Bus hindurchfahren mußte. Nach einer Stunde etwa erreichte der Bus Vishongo. Hierher würde ich für den zweiten Teil der Exkursion zurückkehren. An der Plaza de Armas sah ich, um ein Denkmal von Mariscal Cáceres, Hecken, deren Schnitt mich stark an die Friedhofshecken im ecuadorianischen Tulcán erinnerten. Daß es eine direkte Verbindung gibt, glaube ich allerdings nicht. Außer eben, daß beide Gebiete durch die Inkaherrschaft einen ähnlichen kulturellen Hintergrund haben. Von einer Erosionsrinne zur nächsten schraubte sich der Bus zusehends aus der hier wieder bewaldeten Landschaft höher, bis nach einer weiteren Stunde das etwa dreitausendsechshundert Meter hohe Vilcashuamán erreicht wurde. Vier Stunden für hundertzwanzig Kilometer!

Vilcashuamán

An der Endhaltestelle an der Plaza de Armas kletterte ich etwas steif aus dem Bus und konnte mir sofort die Inkamauern ansehen, auf denen man bereits im sechzehnten Jahrhundert eine Kirche gebaut hatte. In der Zeit der Inkas hatten hier der Sonnen- und der Mondtempel gestanden. Die Spanier hatten sie aus Goldgier eingerissen, ohne jedoch alles zerstören zu können, denn die Inkaarchitektur ohne Mörtel und mit relativ großen Steinen ist sehr haltbar.

Wie weltweit üblich, ließen die christlichen Missionare, natürlich von den zu Missionierenden, ihr Gotteshaus auf den Trümmern der Gebäude der vorhergehenden Religion errichten, um eine Rückkehr zur alten Religion unmöglich zu machen. Die Kirche, die in einem schlechten Zustand war, bot mir nichts Neues, aber der Gang auf einen der beiden Glockentürme, ermöglichte mir einen Rundblick über den Ort. Dabei entdeckte ich eine weitere Attraktion des Ortes, die fünfstufige Inkapyramide. In den Aufgängen zu den beiden Türmen manifestierte sich der Widerstand gegen die aufgezwungene Religion immer noch: Ich mußte in den schwach beleuchteten, engen Gewölben auf jeden Schritt achten, um mir nicht die Schuhe an den menschlichen Exkrementen zu beschmutzen.

Ich lief hinüber zu der Pyramide, zahlte den Eintritt für das Gelände und erklomm die etwa fünfundzwanzig Meter hohe Konstruktion. Auf der kleinen Plattform auf der Spitze saß unbeweglich ein uniformierter Wachmann, als wäre es der Inca persönlich. Ich genoß den Rundblick auf die umliegende Landschaft und sah dabei auch die hinter der Pyramide gelegenen Gebäudereste, die ich mir anschließend näher ansah. Die vier, wohl für Priester und rituelle Handlungen gebauten Steinhäuser schienen mir älter zu sein, als die Fundamente der beiden Tempel, die ich am Waffenplatz gesehen hatte, denn die typische, perfekte Architektur der Inkas bestand keineswegs von Anfang ihrer Blütezeit an.

Auf der das Areal umgebenden Mauer sah ich einen jungen Peruaner, der ungewöhnlicherweise ein Buch las. Als er mich bemerkte, sprach er mich an und erbot sich, mir die Ruinen und den Ort näher zu erläutern. Ich nahm das Angebot dankend an, jedoch nicht ohne mich vorher zu vergewissern, daß ich ihn nicht bei seiner Lektüre störte. Wilfredo, so stellte er sich vor, erzählte mir, daß er in Ayacucho studiere und erwies sich als kompetenter Gesprächspartner, der die meisten meiner Fragen zur örtlichen Geschichte umfassend beantworten konnte.

Er führte mich zum Orakelstein, den ich allein nie gefunden hätte. Unterwegs berichtete Wilfredo mir, daß die Inkastädte üblicherweise in Form eines religiös wichtigen Tieres angelegt war. Von Cuzco wußte ich, daß es ein Puma war, den das Arrangement der Häuser darstellte, hier war es ein Adler. Der Orakelstein bestand, wie ein kurzer Blick durch die Gesteinslupe, die ich bei Exkursionen meist um den Hals trug, zeigte, aus einem hier fast überall verwendeten vulkanischen Gestein, dem Rhyolith, früher hätte man auch Quarzporphyr sagen dürfen.

Wilfredo erklärte mir die Funktion des etwa vier Quadratmeter großen Felsens, in dem zwei wellige Rinnen eingelassen waren, die aus einer gemeinsamen muldenförmigen Vertiefung mit einer kurzen, gemeinsamen Furche hervorgingen und sich am Ende wieder vereinigten. Früher sollen die Priester aus dem Lauf des Bluts von Opfertieren auf dem geneigten Stein die Zukunft vorhergesagt haben. Heutzutage dient das Orakel jungen Paaren, die gemeinsam in die Mulde pinkeln, um je nachdem, ob sich der Strom teilt, oder nur in einer der beiden Rinnen verläuft, auf den Verlauf der Partnerschaft zu ließen. Eins der Kinder, die sich um uns geschart hatten, führte es direkt vor.

Wir kehrten zur Plaza de Armas zurück, wo mir Wilfredo die Funktion einiger Nischen in der Mauer erklärte. In den größeren sollen Wächter gestanden haben, in den kleineren in Brusthöhe, hatten die Wächter entweder ihre persönliche Habe gelegt, oder, wie ich anregte, befanden sich darin Lampen für die Nacht. Die Steine, die teilweise über einen Meter Durchmesser haben, sind unregelmäßig geformt, dabei aber so exakt und glatt poliert, daß sie fugenlos ineinander passen. Daher sieht man auch sofort, wo nachträglich mit Mörtel restauriert wurde. Wir suchten und fanden den Stein mit den sechzehn Ecken, ich wußte, daß mich in Cuzco ein zwölfeckiger Stein erwarten würde.

Ich wollte mich, bevor ich im Kleinbus zurück nach Vischongo fuhr, noch kurz stärken. Daher lud ich Wilfredo, auch um unsere Unterhaltung fortzusetzen, zum Bier ein, was er aber ablehnte. Ich sah einige Restaurants, Pensionen und eine Touristeninformation in dem Ort. Offenbar hatten die Menschen begriffen, wie wichtig der Fremdenverkehr in dieser heute abgelegenen Gegend – in den Zeiten von Tawantinsuyo war das anders – ist, denn ich hörte nicht ein einziges Mal das verhaßte gringo, sondern immer nur turista.

Intihuantana

Ich fuhr wiederum fast eine Stunde zurück nach Vishongo, wo ich mich sofort nach dem Weg zum Inkabad Intihuantana erkundigte. Ich lief eine Stunde bergauf, teils durch Wälder, teils durch Weiden, bis ich endlich am Pomaccocha-See stand. Wenn ich beim Aufstieg das schöne Tal des Río Vischongo, das teilweise recht steil und in diesem Abschnitt bewaldet war, genießen konnte, so überwältigte mich nun der Anblick der Senke hinter einem Hügel, in dem der See lag.

An diesem See hatten die Inkas Stützmauern gegen Erdrutsche, einige Gebäude, Bäder und eine Dusche errichtet. Die schlecht erhaltenen Gebäude, die, wie kleine Hinweistafeln erläuterten, ein Frauenbadehaus, ein Gefängnis, Wachstuben und Lagerräume gewesen waren, verfügten ausnahmslos über Wächternischen. Ich fragte mich, wieso man hier beim Baden eine derart strenge Bewachung brauchte. (Moral und Sitte waren es, wie sich herausstellte.) Die Dusche war ebenfalls gemauert und ergoß sich aus einen kanalisierten Bach in die abgeteilten Kabinen aus Stein.

Als ich den See noch nicht ganz umrundet hatte, traf ich auf eine junge Frau, die mit ihren Kindern in einem Garten für ihren Lebenunterhalt sorgte. Ich fragte, ob es auch auf der anderen Seite des Sees, die von Schilf gesäumt war, Ruinen gäbe, was sie verneinte. So beschloß ich, schleunigst auf den selben Weg zurückzukehren, den ich gekommen war, denn ich wußte, daß ich gegen drei Uhr den letzten Bus nach Ayacucho an der Straße abfangen mußte, wenn ich nicht hierbleiben wollte.

Die Härten des Rückwegs

Ich hastete den Weg zurück. Dabei stieß ich auf die eigentliche Zufahrtsstraße, die mir schneller und bequemer erschien, als die Trampelpfade, die ich auf dem Hinweg benutzt hatte. Außerdem hoffte ich auf eine Zeitgewinn, da die Straße ein gutes Stück vor dem Ort auf den Weg nach Ayacucho traf.

Theoretisch mochten meine Überlegungen richtig gewesen sein, praktisch traf ich auf fünf Erdrutsche, die die Piste blockierten. Über die ersten vier konnte ich, manchmal nahe am Abgrund, überklettern, beim fünften erlebte ich allerdings eine unangenehme Überraschung. Der Erdrutsch war offenbar genau über einem Bach heruntergekommen. Er war in der in den obersten Schichten abgetrocknet, so daß ich die Gefahr des in den Sand- und Gerollmassen fließenden Gewässers nicht sehen konnte. Ich sank knietief im Schlamm ein und drohte über den Rand der Schlucht unter mir zu rutschen. In einer großen Kraftanstrengung riß ich mich los und schaffte es, auf einen größeren Felsblock zu klettern. Von hier aus bewegte ich mich nun, soweit als möglich von der Kante entfernt, von Stein zu Stein, ans Ende des hier etwa fünfzig Meter breiten Erdrutsches.

An der Straße nach Ayacucho wartete ich etwas unruhig auf den Bus, der Verspätung zu haben schien. Naja, dachte ich, so lange er nicht zu früh gekommen war, war alles in Ordnung. Schließlich kam der Bus, der mindestens doppelt so groß war, wie der Kleinbus, mit dem ich gekommen war, aber immer noch nicht das Maß eines echten Reisebusses hatte. Ich winkte dem Fahrer zu, der anhielt und mich einsteigen ließ. Zuerst war ich zufrieden über den erheblich bequemeren, weil größeren Sitzplatz des bei weitem nicht ausgelasteten Busses, aber mit zunehmender Fahrtdauer erkannte ich seinem Mangel: Er war erheblich langsamer, als der Kleinbus. Es war nach sieben, als ich endlich an der Neuen Brücke, wo ich am frühen Morgen eingestiegen war, aus dem Bus kam. Ich aß in Hotel und schreib noch kurz in mein Tagebuch, bevor ich ziemlich erschöpft ins Bett fiel.



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