Stefan K. Beck, Privatgelehrter und Projektemacher

Tagebuch

37. Die Besteigung des Tungurahua

Anfahrt

Ñata holte mich zwar einigermaßen pünktlich vom Hotel ab, aber der von ihm bestellte Jeep kam eine Stunde zu spät, so daß wir erst gegen neun Uhr losgefahren sind. Ich hatte den Eindruck, daß der Vater, der den Jeep fuhr mit seinen Söhnen, die hinten mit Ñata auf der überdachten Ladefläche saßen, die Gelegenheit genutzt hatten, sich eine Einkaufsfahrt in den Ort hatte bezahlen zu lassen.

Bald nachdem wir Baños auf der Straße Richtung Ambato verlassen hatten, bogen wir links auf einen Feldweg ein, der auf die Vorhügel des Vulkans führte. Ab hier begann der Weg abenteuerlich zu werden. Der nur streckenweise mit Steinen gepflasterte Weg war zeitweise weggespült oder von Erdrutschen bedeckt. Nach fast einer Stunde waren wir auf zweitausendsechshundert Meter, immer noch zweihundert Höhenmeter unter dem Eingang zum Nationalpark, als mir der Fahrer erklärte, daß der Weg ab hier auch für einen Jeep unpassierbar sei.

Eine gute halbe Stunde Fußmarsch brachte mich und Ñata zum verwaisten Eingangsbereich des Nationalparks. Erst später wurde mir klar, warum hier niemand mehr Eintritt kassierte. Durch die Schäden, die der letzte Ausbruch hinterlassen hatte, konnten hier sowieso nur geführte Touren stattfinden, für die der Bergführer eine Abgabe entrichtete. Für den Aufstieg zur Schutzhütte, in der wir zu Übernachten gedachten, brauchten wir fast drei Stunden.

Während im Bereich des Eingangs Viehweiden vorherrschten, folgte bald dahinter der Wald. Eine unglaubliche Vielfalt an Pflanzen überwucherte die Ränder des zwei Meter tiefen Hohlwegs, auf dem wir uns meistens bewegten. Zwischenzeitlich war es sogar richtig düster, ob der dichten Vegetation. Und immer saumäßig steil. Der Weg war natürlich ebenfalls in schlechtem Zustand, weil er gleichzeitig die Abflussrinne für übermäßigen Regen enthielt, oder streckenweise sogar war. Hier ließen sich schön historische Vulkanereignisse an Ascheablagerungen beobachten, wenn das fast allgegenwärtige Moos und die Flechten fehlten.

Etwa ab dreieinhalbtausend Metern Höhe änderte sich der Pflanzenbewuchs und ging mit Krüppelnadelhölzern und niederen, robusten Büschen und Gräsern, in die typische Páramo-Vegetation über. Kurz vor dem Ende des Waldes schlug mein Führer, der einen Lehrling zum Anlernen mitgebracht hatte, weil er meinte, daß man im Falle eines Unfalls zu dritt besser damit fertig würde, eine Rast vor. An dieser Stelle war die Vegetation etwas lichter und wir konnten einen Blick ins Tal werfen, während wir uns stärkten. Auf dem letzten Teil des Weges konnten wir wegen der niedrigen Vegetation einen schönen Rundblick genießen. Kurz vor der Schutzhütte fand ich die ersten Ascheflecken an dem Pfad. Es war gerade noch erkennbar, worum es sich handelte, denn die Vegetationsdecke war noch niedrig.

Zwischenstation

Als wir an der Hütte auf dreitausendachthundert Meter etwas verschnauft hatten, begannen wir gegen halb zwei ein verspätetes Mittagessen vorzubereiten. Da Ñata die Vorräte getragen hatte, überließ ich ihm die Zubereitung der Bergsteiger-Kost aus der Tüte und sammelte Feuerholz. Nach dem Essen erklärte er seinem Lehrling einige Seilknoten und Rettungsaktionen. Ich habe eine Weile zugehört, bevor ich mich um weiteres Holz gekümmert habe. Das Holz war leider recht feucht, so daß das Feuer ständig brennen mußte, um die nächsten Äste vorzutrocknen, bevor sie verheizt werden konnten. Beim Holzsammeln sah ich einen weiteren Bergführer mit einem jungen US-Pärchen vorbeilaufen. Ñata erklärte mir, es gäbe etwas weiter oben noch eine Hütte, in der diese Gruppe unterkommen würde. In deren Nähe war auch die Wasserversorgung angesiedelt. Man erklärte mir, daß Wasser aus dem Berg kurzzeitig angezapft werden konnte, um einen Bottich neben der Hütte zu füllen. Dies erforderte offenbar Handarbeit, an einer Pumpe, wie ich vermutete. Deswegen wurde auch der Lehrling hingeschickt.

Das Abendessen gegen halb sieben war noch schlechter, als das Mittagessen. Ich war daher froh, etwas Rum eingepackt zu haben zum Nachspülen. Im schwachen Schein zweier Kerzen packten wir gegen acht Uhr die Schlafsäcke aus und begaben uns zur Ruhe. Die fand ich allerdings nicht gleich. Der Wind heulte um das Holzhaus, das gelegentlich knarrte und ein undefinierbares Tier, möglicherweise in Vogel, schrie seltsam durch die Nacht.

Der Weg zum Gipfel

Um kurz nach vier am Morgen sind wir aufgestanden, haben gefrühstückt und gepackt. Da die Toilette wegen der Unterbrechung der Wasserversorgung eine Zumutung war, mußten wir uns in der Dunkelheit in die Büsche schlagen. Zu diesem Zeitpunkt war es noch ziemlich klar und man konnte die Lichter von Baños und Ambato sehen. Um halb sechs begann der Aufstieg zum Krater. Ñata hatte nicht noch früher aufbrechen wollen, weil er im Falle einer Eruption des Tungurahua die Lavabomben rechtzeitig auf sich zu kommen sehen wollte.

Die Vegetation war bei etwa viertausenddreihundert Metern fast völlig von Asche bedeckt und abgestorben. Die Asche war relativ weich, so daß der weitere Aufstieg recht beschwerlich war. Hinzu kam die dünner werdende Luft und die zunehmende Dichte der Wolken. Auf viertausendsechshundert Meter rasteten wir kurz am Kreuz der Deutschen – vor ein paar Jahren sind hier zwei deutsche Urlauberinnen zu Tode gestürzt. Die Felsen aus erkalteter Lava ragen normalerweise nicht sehr hoch aus dem Boden, an dieser Stelle allerdings konnte ich aufgrund der schlechten Sichtverhältnisse, die Sichtweite betrug etwa dreißig Meter, den Grund nicht mehr ausmachen.

Kurz danach sahen wir die Gruppe vom Vortag. Sie waren dabei umzukehren. Sie hatten sich angeseilt und die Frau ging in der Mitte. Meine beiden Führer waren sich einig, daß die Frau Angst bekommen hatte und daher der besonders gesicherte Rückweg eingeläutet worden war. Ich gebe zu, daß mir sowohl die Sauerstoffarmut der Höhe, als auch der weiche Untergrund schwer zu schaffen machten, aber umgekehrt wäre ich nicht. Ich war zu oft in den Alpen im Nebel marschiert, als mir die schlechten Sichtverhältnisse Angst eingejagt hätten. Außerdem machte mein Bergführer seine Sache sehr gut. Trotz des Nebels schien er keine Probleme mit der Orientierung zu haben. Mir fiel auf, daß trotz der Höhe bis zum Krater so gut wie kein Schnee zu sehen war, am Kraterrand selbst, war es sogar richtig warm.

Am Kraterrand

Um neun Uhr vierzig war es endlich soweit: Ich stand auf dem etwa fünfundzwanzig Meter breiten Kraterrand in viertausendneunhundertachtzig Metern Höhe. Nachdem ich etwas Luft geholt hatte, habe ich die mitgebrachte Rumflasche kreisen lassen und mir eine Kippe gegönnt. Danach haben wir den Krater untersucht und einige neue Fumarolen gefunden. Er wollte von mir wissen, ob der Tungurahua wieder am ausbrechen wäre. Ich erklärte ihm, daß die Fumarolen wie Ventile seien, aus denen der Vulkan entgase. Solange er dies einigermaßen friedlich täte, bestünde keine Gefahr, da auf diese Weise ein Überdruck weitgehend verhindert würde.

Um jedoch genaue Vorhersagen treffen zu können, müßte man wissen, was man nicht weiß: Größe und Füllstand der Magmenkammern, die Druckverhältnisse im Erdmantel, beziehungsweise deren Änderungen, die durch die Aufschmelzung der abgesenkten Plattenteile an der Subduktionszone nahe der Küste hervorgerufen werden. Ich habe einige Gesteinsproben gesammelt. Der Führer hat mir einerseits gesagt, daß der Cotopaxi, obwohl wesentlich höher, erheblich leichter zu erklimmen sei, weil er viel weniger steil sei; und daß ich der erste Nicht-Ecuadorianer wäre, der seit dem verheerenden Ausbruch Ende 1999, den Berg erstiegen habe.

Es war schon ein seltsames Gefühl in dieser Mondlandschaft aus grauem Aschenstaub und ausgeworfenen Lava- und Schlackebrocken – nur mit unseren Fußstapfen, und alles im dichten Nebel. Dieser verhinderte leider auch, daß ich, als mich vorsichtig dem Kraterrand nährte, in sein dampfendes Inneres sehen konnte. Und er brachte mich um den sicher überragenden Rundblick, den ich eigentlich hatte genießen wollen.

Humboldt ging es am 19. Juni 1802 noch schlechter. Von Südwesten kommend benutzte er zwangsläufig eine andere Route zum Aufstieg. Er konnte zwar reiten, aber wegen des strömenden Regens schaffte er es nicht bis zum Gipfel und mußte umkehren. Immerhin kam er in den Bereich des ewigen Eises, das zu seiner Zeit nicht gerade von einem Ausbruch weggeschmolzen war.

Ende 1999 war der Tungurahua ziemlich heftig ausgebrochen. Dünnflüssige, rote Lava hatte nach tagelangem, alles überdeckenden Ascheregen und einigen Gesteinsbrocken einen Lahar ausgelöst. Ein Lahar ist ein durch die heiße Lava ausgelöster Schlammstrom, der durch die Schneeschmelze in der Gipfelregion entsteht. Das ist häufig die Ursache für hohe Verluste unter der Zivilbevölkerung. Diese Lahare schießen mit großer Geschwindigkeit ins Tal und zerstören alles, was auf ihrem Weg liegt. Dazu ist die Vorwarnzeit extrem gering. Daher ist die Haltung der USA völlig unverständlich, die Vulkanbeobachtung in Ecuador wegen lächerlicher hundertfünfzigtausend Dollar abzuwürgen.

Ein Ausbruch hier, auf der Avenue des Volcans von Humboldt, könnte Zehntausende von Todesopfern bedeuten. Die Bewohner Baños waren in die Umgebung geflohen und mußten drei Monate, meist bei Verwandten und Freunden verbringen, bevor sie wieder zurückkehren konnten. Dabei stellten sie fest, wie sehr sie auf die Touristen und damit den Vulkan, der ihre Thermalquellen hervorbringt, angewiesen sind. Sie sagten mir alle, die ich darauf ansprach, daß sie beim nächsten Ausbruch bleiben würden.

Nach ihrer Rückkehr mußten sie die stellenweise einige Dezimeter hohe Aschenschicht entfernen. Innerhalb des Ortes war die erheblich einfacher, als auf den umliegenden Feldern und Weiden, die größtenteils verloren gingen. Inzwischen hatte sich die Lage auch auf dem Land entspannt, aber ich sah immer noch Stellen, auf denen die Asche erst in vielen Jahren wieder fruchtbarer Boden sein würde. Und Präsident Noboa hat natürlich nicht einige Millionen Dollar seines Privatvermögens locker gemacht, um den Betroffenen zu helfen, da der Staatshaushalt für solche Katastrophen nicht eingerichtet ist.

Abstieg

Der Rückweg über die Aschefelder verlief schnell und problemlos, auch wenn ich gelegentlich zum Luftholen anhalten mußte. Als die Wege und die Vegetation wieder einsetzten, wurde der Abstieg etwas beschwerlicher. Die Aufnahme des Gepäcks auf der Hütte machte ihn auch nicht einfacher.

Etwa bei der Stelle an der wir am Vortag im Wald gerastet hatten, sah ich die Amerikaner wieder, die ebenfalls hier verschnauften. Die Gruppe war nun allerdings viel größer. Der junge Mann, der umgekehrt war, fragte mich mit etwas betretener Mine auf Englisch, ob ich es geschafft hätte. Sicher, antwortete ich ihm und lief weiter.

Vier Stunden bergab haben mir den Rest gegeben: Blasen an den blutigen Füßen und tagelang schmerzende Oberschenkel. Erst glaubte mir Ñata nicht, aber als ich bei einer Pause beim Nationalparkeingang die Schuhe auszog und er die geschundenen Füße sah, war er überzeugt. Kurz darauf mußte Ñata auch das Fahrzeug, bzw. den Fahrer ausfindig machen, um zurück in den Ort zu gelangen. Ich sagte ihm er solle sich beeilen, ich würde das Bier schon reichen. Trotzdem dauerte es eine Weile, bis er beim Hof der Leute den Jeep requirieren konnte.

Endlich in der tienda, die seine Frau betreibt, schüttete ich zwei Bier, die scheinbar noch im Hals verdampften. Nachdem ich geduscht und etwas geruht hatte, traf ich François zum Abendessen. Er wollte natürlich wissen, wie es gewesen war und was ich erlebt hatte. Für einen ausgedehnten Abend fehlte mir allerdings die Energie.



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