Stefan K. Beck, Privatgelehrter und Projektemacher

Tagebuch

9. Die Sierra Nevada de Santa Marta

Weil ich den Weg und die damit verbundene Zeit wohl nicht richtig eingeschätzt habe, bin ich erst um neun losgefahren. Über die Hügel nach Santa Marta, Stadtverkehr bis hinter Mamatoco, um dann die Sierra Nevada zu erklimmen. Der Weg war anfangs nicht sehr steil, aber die Sonne brannte zusehends. So kam ein alter Mann mit einem Karren voller Kokosnüsse, den er selbst zog, gerade recht. Er verkaufte mir eine seiner Nüsse und schlug sie mit der Machete auf.

Gestärkt wandte ich mich wieder dem steiler werdenden Aufstieg zu: sechshundertfünfzig Höhenmeter auf etwa fünfzehn Kilometern. Auch wurde die Qualität der Asphaltdecke immer schlechter. Die Zahl der Schlaglöcher stieg und ab elf Uhr raubte mir die Hitze zusätzlich Kraft.

Einige Kilometer vor Minca ist mir auch noch die Kette vom Blatt nach innen gefallen. Während ich mit dem Richten der zwischen Kettenblatt und Rahmen steckenden Kette beschäftigt war, sind zwei junge Männer auf einem Motorroller vorbeigekommen, die sofort, ohne Aufforderung, angehalten haben und sich des Problems annahmen. Etwas für Kolumbien Typisches. Sie haben die Kette recht schnell aus der Verklemmung befreit und mir gesagt, es sei nicht mehr weit, bis in den Ort. Nachdem ich mich bedankt und wir uns verabschiedet hatten, setzte ich den schweißtreibenden Aufstieg durch den inzwischen immer häufiger auftretenden Bergurwald fort.

Irgendwann stand ich, nach einer Kurve vorwarnungslos am Ortseingang. Da ich von einer deutsch geführten Pension am Bach gelesen hatte, suchte ich diese zuerst auf. Allerdings machte da niemand auf. Auch ein Nachbar, der mich bemerkte und sogar bei den Pensionswirten anrief, vermochte mir nicht zu helfen. Also bin ich, auch auf sein Anraten, zurück zum Ortseingang, wo ich, schon bei der Einfahrt, das hostal rechts bemerkt hatte.

Die Anlage des Gasthofs ist eigentlich recht ansprechend: ein großflächiges, einstöckiges Holzhaus, das über eine rundum überdachte Veranda verfügt und in einen großen parkähnlichen Garten liegt. Nur ist leider alles ziemlich verwahrlost. Dazu paßt, daß ich im Zimmer zuviel Ungeziefer fand. Da hat auch der Ventilator nicht geholfen. Nachdem ich das Zimmer bezogen und eiskalt geduscht hatte – Bergbäche, und da kommt das Leitungswasser her, sind auch an der heißen kolumbianischen Karibikküste eiskalt –, habe ich mich, vor der Siesta, mit ein paar Bieren in einer tienda gestärkt.

Am Nachmittag machte ich mich etwas mit dem Ort vertraut. Zum Abendessen saß ich im, zum Hotel gehörenden Restaurant. Da das Zimmer nicht über einen Tisch verfügte, war ich froh, daß ich, als einziger Gast, im Restaurant meine Tagebuch Aufzeichnungen recht ungestört vornehmen konnte.

Morgens habe ich mich über das Viehzeug im Zimmer beschwert – und ein anderes gekriegt; Sauber, aber wegen der fünf Betten darin zurückgehalten – und fast ungezieferfrei.

Der gut zweistündige Morgenspaziergang war eher ein Flop, weil ich nicht dahinkam, wo ich eigentlich hinwollte. Auch geologisch war die morgendliche Wanderung nicht sehr ergiebig: außer dem bekannten Granit gab’s auch hellgrüne Schiefer. Oft steilgestellt und geklüftet, seltener Scherzonen. Diese Schiefer sind Teil der uralten Formationen, die aus der Zeit vor Abtrennung Südamerikas von Afrika stammen.

Auf den Vorhügeln hinter dem Ort stehen Kaffee-fincas: in dieser Höhenstufe ist das Klima ideal für den Anbau von Kaffee. Dazwischen und darüber herrscht, von nur wenigen Feldern zum Nahrungserwerb, meist Bananen, unterbrochen, der Nebelwald. Im undurchdringlichen Grün aus Blättern, Ranken, Büschen und Bäumen, in dem ich auch Kochbananenstauden erblickte, waren immer wieder exotische Vögel vernehmlich.

Hier haben mich die Blattschneiderameisen, die mir einige Male über den Weg liefen, beeindruckt. Sie hatten regelrechte Straßen mit richtig viel Verkehr eingerichtet: Mehrspurig gingen ihre Wege über die Straße. Mindestens sechs Spuren pflegt ein kräftiger Stamm. Arbeiter mit, für ihre Größe, gigantischen Blattstücken an denen man die Blattschneiderameisenwege schon von weitem erkennt, überrennen einander fast beim Bestreben möglichst schnell zur Höhle zu gelangen, die sie in den Rand des ausgewaschenen Weges gegraben haben. Die Arbeitsleistung ist eminent, da wandern ganze Wälder über die Straße und in ihre Höhle, um als Nährboden zur Pilzzucht zu dienen. Der nächste heftige Regenguß dezimiert sie wieder, wenn sich der massiv erodierte Weg in ein Bachbett verwandelt. Zwischen den Arbeitern sah ich vereinzelt Soldaten. Einmal, als ich einen besonders großen Stamm beäugte, kamen auf einmal ein paar erheblich größere Kriegerameisen, die sich schnell ihren Weg durch den Verkehr suchten. Umgeben von sechs Kriegern seiner Leibgarde sah ich ihn – den Offizier: größer als alle anderen, doppelt so groß, wie ein Arbeiter, rückte er aus. Vor dem sind alle ausgewichen. Leider verschwand die Gruppe im Waldrandgras, so daß ich nicht den Grund für das Ausrücken des Chefs persönlich in Erfahrung bringen konnte.

Immer wieder fiel mir die Mentalität der Leute angenehm auf. Es sind nicht nur die freundlichen Helfer bei der Radreparatur am Vortag, oder der Taxifahrer in Santa Marta, der mir den Weg zum erheblich billigeren Minibus für den Rückweg von der Quinta San Pedro Alejandrino gezeigt hat, es sind die Leute mit denen man’s täglich zu tun hat. Sicher suchen sie ihren Vorteil. Zugegebenermaßen zahle ich auch hier den Ausländerzuschlag, aber selbst die Armen geben, was sie können: Omar, tinto und agua panela aromatico; Reinaldo, Sprit und Seil. Auf dem Weg in den Wald habe ich ziemlich viel gegrüßt und die Grüße zurück waren immer offen und ehrlich, vielleicht mal verschmitzt, aber grußlos oder mürrisch gab’s nicht. Kolumbianer sind quasi von Natur aus gut drauf – zumindest da, wo man sie in Ruhe läßt.

Nach dem Spaziergang stärkte ich mich in der Kneipe nebenan. Von meinem Platz unter dem Vordach sah ich ein Billardtisch, zwei Dominotische und ein paar Stühle und den Tresen. Als aus der einzelnen riesigen Box, die fast die Hälfte des Raumes unter dem eisernen Rolladentor einnahm, windelweiches Gejammer aus den US-Charts ertönte, fragte ich, ob der etwa zwanzigjährige Sohn des Hauses das meinetwegen machte. Auch wenn er es nicht so recht bestätigen wollte, sagte ich ihm, daß ich kolumbianische Volksmusik vorzöge und bald dröhnte der Vallenato über die Straße.

Später habe ich Reinaldos Seil für die Hängematte gebrauchsfertig gemacht und die Hängematte an den dafür vorgesehenen Haken unter dem Dach der Veranda vor meinem Zimmer befestigt und ausgiebig Siesta gehalten, obwohl ich die Hängematte als, aufgrund der Kürze der Befestigungshakendistanz, unbequem empfand. Unter voller Ausnutzung der etwa drei Meter langen Seilstücke – also acht Meter Distanz zwischen den Haken – ist die Hängematte bequem.

Ich schrieb wieder nach dem Essen im Restaurant ins Tagebuch und hatte Glück, daß der Strom gerade nicht ausfiel. In solchen Fällen hat man mir eine Kerze gebracht, damit ich mein Schreiben oder das Reiseführerstudium nicht abbrechen mußte. Auch an diesem Tag war niemand außer der Betreiberfamilie anwesend.

Ich bin extra früh, wegen der möglichen Mitfahrgelegenheit, raus zur Besteigung eines Vorgipfels namens Cerro Kennedy, der mit über dreitausendeinhundert Meter angegeben ist. Vor halb sieben bin ich zum Haus des Lasterfahrers, der sonst Passagiere mitnimmt und habe gefragt. Aber an diesem Tag brauchte er Sprit und ein Ersatzteil. Hilfreich, wie Kolumbianer sind, führte mich der Mann zu einen Jeep-Besitzer, der gelegentlich Touristen auf den Berg bringt. Die Vermittlung an einen Privat-Jeep für hundert Mark lehnte ich jedoch ab. In einer Gruppe, die sich den Tarif teilen kann, wird der Preis erträglich und bezahlbar, aber allein war’s mir zu teuer.

Also ging ich zu Fuß der Straße entlang. Nach gut dreieinhalb Stunden Fußmarsch fand ich die Kreuzung Richtung Gipfel; aber noch mal zwei Stunden bergauf endeten im ab Mittag aufsteigenden Nebel. Im oberen Streckenabschnitt waren die vielen Bäche mit ihren Kleinschluchten, die für jede Serpentine erneut überquert werden mußten, über die „Straße“ geleitet, so daß hier immer wieder, die, von den Einheimischen ebenfalls genutzten, Steine zur Überquerung herhalten mußten. Den Jeep-Besitzer sah ich ebenfalls vorbeifahren. Offenbar hatte er später sein Auto doch noch voll gekriegt. Aber, daß die Fahrgäste den Gipfel gesehen haben, glaube ich nicht, denn es war schon später Vormittag, als der Wagen an mir vorbeirumpelte.

Kurz vor dem Ziel stand ich mitten im Nebelwald, in den Wolken, ohne was zu sehen; der Blick von unten bewies auch, daß der zweite Gipfel, kurz unterhalb, bereits so im Nebel lag, daß die Antenne, die darauf steht, nicht mehr zu sehen war. Unter diesen Bedingungen war auch ein Blick auf die Schneegipfel um den Pico Colon nicht mehr möglich. Also machte ich mich auf den Rückweg; der zog sich fast noch mehr als der Aufstieg. Noch mal viereinhalb Stunden. Zudem fing’s auch noch an, zu regnen; die Wolken folgten mir nach unten.

Die Wanderung durch den Wald offenbarte mir die höhenabhängigen Stufen von Flora und Fauna, die Alexander von Humboldt bei seiner Reise erstmals festgelegt hat. Es waren deutliche Unterschiede im Klima festzustellen und demzufolge auch eine Änderung der überreichen Pflanzen- und Tierwelt. Bis acht-, neunhundert Meter hielt sich die Küstenvegetation weitgehend, darüber änderte sich der Pflanzenwuchs merklich: Es wächst Kaffee und der Bergwald ist vorherrschend. Palmen werden weniger und ab zweitausend Meter verschwinden sie völlig. Es ist hier feuchter und kühler und es treten vermehrt vier bis fünf Meter hohe Riesenfarne und bartflechtenüberwucherte Bäume auf. Die Insekten schienen hier auch erheblich reduziert zu sein; selbst die Blattschneiderameisen waren dezimiert.

Abgesehen davon, dass ich den Geologen Humboldt nun besser verstand, was seine botanische Neigung angeht, erwies sich die Geologie, soweit die Vegetation mir Einblick gewährte, als äußerst interessant. Unten der Granit mit den Resten der durchstoßenen Umgebungsgesteine, darüber ein dunkelgrauer Schiefer, lokal mit goldfarbenem Glimmer – an einem Bachbett, als ich es da golden Glitzern sah, war ich für einen kurzen Moment irregeführt, aber eine kurze Prüfung belehrte mich aber doch –, einigen Kalk-/Marmoreinschlüssen, und dem hellgrünen Schiefer. Weiter oben war nur noch der graue Schiefer. Die Farben können sowohl durch den unterschiedlichen chemischen Aufbau der Ablagerungen, als auch durch die Metamorphose, die bei diesen Schichten nicht gerade schwach war, hervorgerufen sein. Die Marmoreinschlüsse sind metamorpher Kalk, höchstwahrscheinlich ehemalige Riffe im Meer.

Sowohl in den metamorphen Sedimenten, wie auch im Granit fand ich mindestens zwei Generationen von Falten. Die älteren Falten liegen ungefähr Richtung Norden, die jüngeren stehen aufrecht und verlaufen etwa senkrecht dazu. Quarzgefüllte Kluftsysteme, die je einen de beiden Faltensysteme zugeordnet werden können und ein neueres unverfülltes Kluftsystem rundeten das Bild ab. Für mich ergab sich dadurch ein komplexes Entstehungsbild. Im Erdaltertum, als Europa und Nordamerika auf der einen Seite und Afrika und Südamerika auf der anderen noch zusammenhingen, muß es eine Bewegung gegeben haben, bei der der dazwischenliegende Ozean wegsubduziert wurde. Dabei sind die Gesteinsschichten und die ersten Deformationen der heutigen Sierra Nevada entstanden. Erst später, als die vier Kontinente sich untereinander lösten und begannen, sich in ihre heutige Position zu bewegen, brachen die Schichten im Zuge der Andenbildung aus dem Untergrund hervor und wurden zerblockt und verschoben. Ich bedauerte, hier nicht die Gelegenheit und die Mittel zu eingehenderen Untersuchungen gehabt zu haben.
Recht erschöpft nach meiner Rückkehr, hat's nach den Abendessen zu kaum mehr, als noch etwas Reiseführerstudium und ein paar Bieren gereicht.

Nach dem Frühstück im Restaurant habe ich bei der Besitzerin und auf der aushängenden Regionalkarte nachgeforscht: Ich mußte am Vortag etwa zweieinhalbtausend Meter hoch gewesen sein, also bin ich fast zweitausend Höhenmeter hochmarschiert.
Wegen der Blase, die sich nach dem Marsch an meiner Ferse gebildet hatte, beschloß ich, den trüben Tag zu Fahrradwartung und Gepäckarrangement zu nutzen. Weil ich kein Mineralwasser zu kaufen fand, brachte ich den Wasserfilter zum Einsatz.

Als ich unter dem Dach im Freien saß und den Leuten am Hauptplatz zusah, ritten einige südamerikanische Cowboys auf kleinen Pferden an mir vorbei. Große Pferde habe ich auf der ganzen Reise nicht gesehen. Sie trugen meist einen Hut und hatten entsprechender Kleidung; einer davon führte sogar drei Packpferde mit, zu dem Gaul auf dem er ritt. Er hatte irgendwas geladen und war relativ schnell wieder in den Ort zurückgelaufen mit den leeren Tieren. Zur Schonung der Gelenke der Pferde werden sie meist nur für den Aufstieg eingesetzt. Ein skurriler Cowboy mit exzentrischer Sonnenbrille hat hier ebenfalls Station gemacht und eingekauft, um dann wieder zurückzulaufen, da der Muli die Last tragen mußte. Andere warteten an der Haltestelle des Pick-Ups nach Santa Marta, wo sie augenscheinlich ihre Landwirtschaftsprodukte verkaufen wollten. Schon noch gut rural da.

In dem Laden hielten die Besitzer einen Vogel, dessen eigentümlicher Gesang, der an einen pfeifenden Menschen erinnert, ich schon im Wald gehört hatte. Dieser chupahuevo, der Name bedeutet Eierschlecker, war offenbar schon eine Weile in Gefangenschaft, denn er ersetzte mit den Liedern, die er von den Menschen gelernt hatte, einen Radio. Fast ständig trällerte er eine Melodie. „La Cucaracha” erkannte sogar ich.

Nach dem Mittagessen zog ich mich in die Hängematte zurück, wo ich den Nachmittagsregen verschlief. Am Nachmittag beendete ich meine Arbeiten an Fahrrad und Ausrüstung. Inzwischen war der Tabak gänzlich zur Neige gegangen und ich mußte auf die in Caracas gekauften Zigarren ausweichen. Als es am Abend wieder regnete, saß ich Hotelrestaurant und plante die Rückkehr nach Santa Marta für den nächsten Tag



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